Andere Krankheiten warten nicht, bis Corona vorüber ist. Das sehe ich in meiner Hamburger Praxis aktuell jeden Tag. Dort versorge ich – wenn auch deutlich weniger als gewohnt – weiterhin akute und chronische Erkrankungen. Doch mindestens ebenso oft versorge ich eben nicht mehr – weil sich Patienten nicht in die Praxis trauen.
Gerade Chroniker kommen seit Beginn der Pandemie später als gewohnt. Heute beispielsweise habe ich eine Patientin mit einer exazerbierten COPD gesehen. Sie wäre im Normalfall deutlich früher gekommen. Aber ich beobachte bei ihr wie auch bei anderen eine Angst, sich in der Praxis anzustecken oder hier wertvolle Ressourcen zu “verstopfen”. Ich habe daher eine Liste mit meinen Chroniker- und Hausbesuchspatienten erstellt, die ich seit Wochen abtelefoniere. Viel kann ich auf diesem Weg klären.
Umgang mit Unsicherheiten
Dabei betrifft die Angst nicht nur meine bekannten “Angst-Patienten”. Natürlich gibt es Patienten mit Depressionen und Panikstörungen, die unter den Ausgangssperren besonders leiden. Darüber hinaus sorgen sich aber viele Patienten, die nie psychische Leiden hatten – von der Mutter, die Angst hat, ihren Sohn mit Multipler Sklerose (MS) mit Corona anzustecken, bis hin zu Patienten, die quasi voll vermummt in die Praxis kommen. Diese Unsicherheiten kann ich ihnen auch nur schwer nehmen – denn auch wir Hausärzte wissen ja nicht, wie es weitergeht.
Der Umgang mit Unsicherheiten ist dabei eine urhausärztliche Aufgabe. Bei Sorgen und Fragen bin ich als Hausärztin die erste Ansprechpartnerin meiner Patienten – immer schon. Mit der aktuellen “Corona-Angst” aber wird das noch einmal auf eine ganz neue Probe gestellt. So laufen beispielsweise auch Fragen bei uns auf, die sonst eher Randthemen sind, die Kinderbetreuung etwa. Ich betreue viele Alleinerziehende – wie eine Patientin mit zwei pubertierenden Söhnen und einem Kleinkind, die im Homeoffice arbeiten soll und dabei wahnsinnig überfordert ist.
Viel Zündstoff vorhanden
All diese Einzelschicksale, die das Coronavirus und die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen mit sich gebracht haben, sitzen bei uns in der Praxis – auch in Form von schluchzenden Hafenarbeitern, die ohne Job nach Hause geschickt werden, oder verzweifelten Kellnerinnen, die von einem Tag auf den anderen kein Geld mehr haben. Da ist aktuell viel Zündstoff vorhanden, und viel bekommen wir ja gar nicht mit, weil eben nicht alle Probleme auch in der Praxis ankommen.
Jene Patienten aber, die wir sehen, sind unheimlich dankbar, dass wir weiter für sie da sind. Mich erreichen in diesen Tagen viele Worte des Dankes – bis hin zur Merci-Schokolade. Das ist bei allen Sorgen eine schöne Wertschätzung.