DeutschesArztPortalKinderarzneien: Dosis halbieren greift zu kurz

Viele Arzneimittel sind nicht oder nicht gut für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen untersucht. Eine Datenbank hilft bei der richtigen Dosierung.

Auch heute noch müssen Ärzte bei Verordnungen für Kinder teilweise auf Arzneimittel im Off-Label-Use zurückgreifen.

“Einfach die Dosis halbieren und die Tablette zerkleinern.” Noch zu häufig müssen Ärztinnen und Ärzte einen Spagat machen und Kindern und Jugendlichen Medikamente verordnen, die nur an Erwachsenen getestet und für diese zugelassen sind. Dabei sind gerade Heranwachsende eine besonders vulnerable Gruppe. Seit 2007 gilt in der EU die sogenannte Kinderverordnung. Was hat sich bei der Arzneimittelversorgung für Kinder und Jugendliche seitdem getan?

Ein Grund dafür, warum Kinder und Jugendliche bei den Arzneimitteln das Nachsehen haben, ist der gesteigerte – per se nicht geringe – Aufwand für Arzneimittelstudien bei Heranwachsenden. Aufgrund der vielen verschiedenen Entwicklungsphasen bis zum Erreichen der Volljährigkeit, müssen Wirksamkeit und Sicherheit der Arzneimittel für ein unterschiedliches Patientenklientel nachgewiesen werden.

So können beispielsweise Medikamente bei Kindern und Jugendlichen unwirksam sein, obwohl sie bei Erwachsenen bewährt sind, oder es treten Nebenwirkungen auf, die bei Erwachsenen ausbleiben.

Dosierungstipps beim Kinderformularium

Ein weiterer Aspekt, der die gleichzeitige Erprobung und Zulassung von Arzneimitteln für Minderjährige und Erwachsene verkompliziert, ist die Entwicklung einer kindgerechten Darreichungsform, die die Einnahme erleichtert. Anstelle von Tabletten werden für Kinder beispielsweise Tropfen und Säfte eingesetzt, die zudem eine adäquate, gewichts- und altersabhängige Dosierung ermöglichen. [1, 2]

Tipp: Evidenzbasierte Empfehlungen für eine altersgerechten Dosierung und Anwendung von Arzneimitteln bei Kindern und Jugendlichen bietet die Datenbank Kinderformularium.DE, die u. a. die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) finanziell unterstützen. Die Daten beruhen auf Publikationen, Fachinformationen und Leitlinien und werden von unabhängigen Expertinnen und Experten überprüft. [3]

Fehlt jedoch ein entsprechendes Arzneimittel für Kinder und Jugendliche, müssen Ärztinnen und Ärzte immer noch auf Off-Label-Use-Verordnungen zurückgreifen (siehe Artikel “Off-Label-Verordnung: Diese Besonderheiten sollten Sie kennen” HA 5/24). Auch dabei kann zur Einschätzung der Dosierung neben den Erfahrungswerten der Ärztin und des Arztes die Datenbank Kinderformularium hilfreich sein. [3]

Wie eine Umfrage des DeutschenArztPortals (n = 138, Abb. 1 unten) zeigt, werden Kinder und Jugendliche öfter mit Arzneimitteln im Off-Label-Use behandelt: 14 bzw. 12 Prozent verschreiben täglich oder mehrmals wöchentlich Arzneimittel im Off-Label-Use. Weitere acht Prozent der Befragten tun dies wöchentlich. [4]

Abhilfe durch die EU-Kinderverordnung

In der Regel werden Arzneimittel zunächst mit Erwachsenen und erst im Anschluss mit Kindern und Jugendlichen untersucht, wodurch letztere einen besonderen Schutz genießen. In der Vergangenheit fanden klinische Studien mit Kindern und Jugendlichen jedoch oft gar nicht statt – bis in die 1980er Jahre gab es ethische Vorbehalte.

Die daraus resultierende ungleich schlechtere Arzneimittelversorgungslage für Kinder und Jugendliche erkannte auch die EU und beschloss die sogenannte Kinderverordnung, die Anfang 2007 in Kraft trat. [1, 7, 8]

Kern der EU-Verordnung ist ein verpflichtendes pädiatrisches Prüfkonzept (PIP, Paediatric Investigation Plan), das bei Einreichung der Zulassungsunterlagen für ein neues Arzneimittel vorgelegt werden muss und ein geplantes Entwicklungsprogramm für die Anwendung an Kindern enthält. Von dieser Verpflichtung ausgenommen sind u. a. Generika und Biosimilars, da in diesen Fällen eine gleichwertige Wirksamkeit und Sicherheit wie beim Originalpräparat für alle Altersklassen angenommen werden.

Der wissenschaftliche Pädiatrieausschuss (PDCO, Paediatric Committee) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) bildet dabei die zentrale Kontrollstelle. Fehlt etwa ein vom Ausschuss genehmigtes Prüfkonzept für Minderjährige, wird der Zulassungsantrag als unvollständig zurückgewiesen. Der Pädiatrieausschuss kann beispielsweise verlangen, dass

  • Arzneimittelstudien auch für bestimmte Altersklassen (Kinder und/oder Jugendliche) erfolgen,
  • eine kindgerechte Darreichungsform entwickelt wird,
  • Studien für Kinder und/oder Jugendliche parallel oder im Anschluss zu Erwachsenenstudien stattfinden. [1, 9]

Die EU zog 2017 zehn Jahre nach Einführung der Kinderverordnung ein positives Zwischenfazit: Von 2007 bis 2016 stieg der Anteil klinischer Studien mit Kinderbeteiligung in der EU von 8,25 auf 12,4 Prozent, über 250 neue Arzneimittel wurden für Kinder und Jugendliche zugelassen sowie mehr als 1.000 PIP angenommen, wovon 131 im genannten Zeitraum abgeschlossen wurden. [8]

Neuere Zahlen bestätigen die positive Entwicklung: Zwischen 2021 und 2023 wurden jährlich 46 bis 52 neue Medikamente und Applikationshilfen für Kinder und Jugendliche neu zugelassen, die zuvor höchstens für höhere Altersklassen bei Minderjährigen oder Erwachsene verfügbar waren. [2] Insbesondere für seltene und onkologische Erkrankungen besteht aber noch viel Potenzial bei der Entwicklung von Kinderarzneimitteln. [8]

Lieferengpässe: Was hilft?

Während sich die Situation bei den zugelassenen Arzneimitteln in den letzten zwei Jahrzehnten für Kinder und Jugendliche insgesamt positiv entwickelt hat, wurden sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch das Apothekenpersonal mit einer neuen Hürde konfrontiert: Lieferengpässe (siehe Artikel “Besorgter Blick auf den Winter” HA 16/24).

Zu oft fehlten in den ausklingenden Covid-19-Pandemiejahren dringend benötigte Fiebersäfte oder Antibiotika für die Kleinsten. Die Gründe hierfür sind vielfältig, u. a. eine Konzentrierung der Produktion auf wenige – meist asiatische – Länder sowie fehlende finanzielle Anreize für Pharmahersteller und starke Infektionswellen. Der Gesetzgeber reagierte 2023 mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG). [10]

Mit dem ALBVVG wurden u. a. Festbeträge und Rabattverträge für Kinderarzneimittel abgeschafft und Hersteller durften den Preis einmalig um 50 Prozent anheben. In Apotheken wurden die Austauschregeln bei Nichtverfügbarkeit eines Arzneimittels erleichtert – diese gelten auch für nicht verfügbare Arzneimittel für Erwachsene.

In diesen Fällen dürfen Apotheken ohne ärztliche Rücksprache, etwa bei der abgegebenen Packungsgröße, Packungsanzahl und Wirkstärke (verordnete Wirkstoff-Gesamtmenge darf nicht überschritten werden) von der Verordnung abweichen.

Darüber hinaus dürfen Apotheken bei Nichtverfügbarkeit eines Kinderarzneimittels der Dringlichkeitsliste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) dieses gegen ein wirkstoffgleiches in der Apotheke hergestelltes Arzneimittel, auch in einer anderen Darreichungsform, oder gegen ein wirkstoffgleiches Fertigarzneimittel in einer anderen Darreichungsform ohne ärztliche Rücksprache austauschen. [10, 11]

Inwieweit die Maßnahmen Wirkung gezeigt haben, bleibt umstritten – Lieferengpässe stellen weiter eine große Herausforderung für alle Beteiligten des Gesundheitssystems dar. Ende Oktober 2024 wurden für 490 Arzneimittel Lieferengpässe durch das BfArM gemeldet. [12] Davon betroffen sind u. a. Antibiotika und atomoxetinhaltige Arzneimittel. Bei paracetamol- und ibuprofenhaltigen Fiebersäften sind laut BfArM keine Lieferengpässe bekannt (Stand: September 2024).

Dennoch empfiehlt das BfArM mit Blick auf die laufende Infektionssaison, die Verordnung einer festen oralen Darreichungsform unter Berücksichtigung des Alters der Patientin oder des Patienten und der Verfügbarkeit der Darreichungsform zu prüfen. [12, 13] Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie e.V. (DGPI) gibt darüber hinaus Empfehlungen zu Alternativen bei der antibiotischen Therapie im Falle von Versorgungsengpässen. [14]

Fazit

  • Kinder und Jugendliche hatten bei Arzneimitteln lange das Nachsehen. Auch heute noch müssen Ärztinnen und Ärzte bei Verordnungen für Kinder und Jugendliche teilweise auf Arzneimittel im Off-Label-Use zurückgreifen.
  • Durch die EU-Kinderverordnung sind zwar mehr Kinderarzneimittel klinisch erprobt und zugelassen, jedoch machen Lieferengpässe auch und vor allem vor Kinderarzneimitteln nicht Halt.
  • Gerade bei Off-Label-Use sollten Ärztinnen und Ärzte auf eine gute Dokumentation achten, um Regresse zu vermeiden.

Quellen:

  1. https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Zulassung/Arzneimittel-fuer-Kinder/_node.html
  2. https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/datenbanken-zu-arzneimitteln/amzulassungen-kinder.html/_p6#listmedikamentekinder-90722
  3. https://www.kinderformularium.de/sign_in/startseite
  4. Umfrage DeutschesArztPortal vom 22.10. bis 03.11.2024 “Wie oft verordnen Sie Kindern und Jugendlichen Arzneimittel im Off-Label-Use?”
  5. Gemeinsamer Bundesausschuss, Off-Label-Use – Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten
  6. VIN VerordnungsInfo KV Nordrhein “Off-Label-Use-Verordnung von Arzneimitteln außerhalb der Zulassung” vom 7. Juli 2022
  7. Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006
  8. State of Paediatric Medicines in the EU, 10 years of the EU Paediatric Regulation, 2017
  9. https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/arzneimittel-fuer-kinder/eu-kinderam-vo.html
  10. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/gesetze-und-verordnungen/guv-20-lp/albvvg
  11. https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelinformationen/Lieferengpaesse/ALBVVG/_node.html
  12. Lieferengpass-Datenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte
  13. https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelinformationen/Lieferengpaesse/mitteilung_fiebersaefte_kinder.html?nn=471282
  14. https://dgpi.de/versorgungsengpaesse-antibiotika-20-12-2022/
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