Frühsommer-MeningoenzephalitisFSME-Infektion: Die große Unbekannte

Viele FSME-Infektionen verlaufen stumm – in der Literatur findet man Angaben von 60 bis 90 Prozent. Ein neuer Test macht es möglich, genaue Zahlen für Deutschland abzuschätzen. Ein Forschungsteam hat das in vier Regionen untersucht.

FSME-Viren werden vor allem durch Zecken auf den Menschen übertragen.

2023 wurden insgesamt 475 manifeste FSME-Erkrankungen (Frühsommer-Meningoenzephalitis) an das Robert Koch-Institut (RKI) übermittelt [1] – aber wie hoch die Zahl der Infektionen mit dem FSME-Virus in Deutschland ist, darüber kann man nur spekulieren. Vermutet wird eine hohe Dunkelziffer.

„In der Literatur findet man Angaben von 60 bis 90 Prozent von klinisch stumm verlaufenden Infektionen“, berichtete Professor Johannes Borde vom Gesundheitszentrum Oberkirch bei einer Ärztefortbildung im Rahmen des Süddeutschen Zeckenkongresses. Nun macht ein neu entwickelter Bluttest es möglich, Impfantikörper und Antikörper nach einer Infektion voneinander zu unterscheiden – dadurch können beispielsweise Blutspendeproben analysiert und Rückschlüsse auf die FSME-Infektionsraten in der Bevölkerung gezogen werden.

Genau das hat Borde mit seinem Team in vier Regionen Deutschlands untersucht:

  • Im Hochrisikogebiet Ortenaukreis in Baden-Württemberg,
  • im Hochrisikogebiet Passau mit der laut RKI höchsten Durchimpfungsrate in Deutschland,
  • in einer „emerging“ Hochrisiko-Region in Sachsen und
  • in einem urbanen Nicht-Risikogebiet in Norddeutschland, in dem bisher keine FSME-Fälle berichtet wurden.

Für das Hochrisikogebiet Ortenaukreis stellte Borde die Ergebnisse der Untersuchungen vor, die im vergangenen Jahr publiziert wurden [2]. Insgesamt wurden rund 2.200 Proben von Blutspendern aus dem Ortenaukreis analysiert, und zwar aus dem Zeitraum Mai bis September 2021.

„Zunächst wurden die Proben per ELISA-Test auf FSME-IgG-Antikörper geprüft. Die Spender, deren Proben positiv getestet wurden, hatten entweder eine FSME-Impfung erhalten oder eine FSME-Infektion durchgemacht“, berichtete der Infektiologe.

Durch den neu entwickelten ELISA-Test auf FSME-IgG NS1 (NS für „nicht-strukturelles Protein“) hätten dann diejenigen, die gegen FSME geimpft worden waren, von denjenigen unterschieden werden können, die eine FSME-Infektion durchgemacht hatten.

„Das NS1-Antigen wird nur bei einer Infektion im Körper gebildet“, erklärte Brode. Die Sensitivität des Antikörpertests liege bei über 94 Prozent, die Spezifität bei über 93 Prozent. In Neutralisationstests wurden zudem die negativen Proben als solche von Impflingen bestätigt, die Ergebnisse also noch einmal bestätigt.

Geschätzt 20.000 Infizierte in 20 Jahren

57 Prozent (n=1.257) der Blutspendeproben waren positiv für FSME-IgG, diese Personen hatten also entweder eine FSME-Impfung erhalten oder eine FSME-Infektion durchgemacht. 5,6 Prozent der Blutproben (n=125) wurden positiv auf FSME-IgG NS1 getestet, diese Personen hatten also eine Infektion mit dem FSME-Virus durchgemacht.

Durch Vergleich mit den an das RKI gemeldeten FSME-Erkrankungen wollte das Team anschließend auf die Zahl der unbemerkt verlaufenden Infektionen schließen. Zunächst gingen die Forscherinnen und Forscher davon aus, dass die durch eine Infektion hervorgerufenen NS1-Antikörper im Schnitt 20 Jahre im Blut von Rekonvaleszenten nachweisbar sind [2].

Innerhalb von 20 Jahren (zwischen 2001 und 2021) wurden aus dem Ortenaukreis 408 FSME-Erkrankungen berichtet. Daraus berechnete das Team eine jährliche Inzidenz von 4,69 FSME-Erkrankungen pro 100.000 Einwohner. Auf Basis der Daten der Blutspender kamen die Forscherinnen und Forscher allerdings auf eine jährliche Inzidenz von 283 Infektionen pro 100.000 Einwohner – viele Infektionen werden also scheinbar gar nicht erkannt.

Borde: „Der Manifestationsindex, also der Anteil der Infektionen, der sich als Erkrankung manifestiert, liegt unseren Daten zufolge bei zwei Prozent. Und: Auf Grundlage unserer Daten haben sich im Zeitraum von 20 Jahren im Ortenaukreis wahrscheinlich 20.000 Menschen mit dem FSME-Virus infiziert.“

Bei genauerer Betrachtung des Ortenaukreises fielen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zudem große regionale Unterschiede auf. „Auf Gemeindeebene gibt es große Schwankungen, in der Stadt Kehl Richtung Frankreich waren zwei Prozent der Blutspenden NS-1-positiv, diese Menschen haben also eine Infektion durchgemacht. In der Stadt Wolfach weiter nordöstlich hingegen waren mit zwölf Prozent der Blutspenden deutlich mehr Proben NS-1-positiv“, berichtete Borde.

Die teils sehr lokal und differenziert zu betrachtende Entwicklung der FSME-Zahlen betonte auch Professor Gerhard Dobler vom Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München. Die jeweilige lokale Ökologie hänge mit der Epidemiologie zusammen, wie genau, sei aber unklar.

So gebe es beispielsweise genau begrenzte Naturherde, wo regelmäßig mit dem FSME-Virus infizierte Zecken gefunden würden. „Das Areal wird aber nicht größer, das Virus breitet sich also nicht außerhalb dieses genau begrenzten Gebiets aus. Das ist natürlich ungewöhnlich – und die Gründe völlig unklar“, berichtete Dobler. „Die Epidemiologie und Zyklizität von FSME-Infektionen ist für uns bisher nicht verständlich,“ lautete daher sein Resümee.

Ganz Deutschland ist Risikogebiet

Von den RKI-Karten zu den FSME-Risikogebieten in Deutschland ist der Virologe nach eigenem Bekunden „kein großer Fan“. Dem RKI zufolge wird ein Gebiet als FSME-Risikogebiet eingestuft, wenn die Zahl der übermittelten FSME-Erkrankungen in mindestens einem Fünfjahreszeitraum zwischen 2002 und 2023 in diesem Gebiet höher liegt als die bei einer Inzidenz von 1 Erkrankung/100.000 Einwohner erwarteten Fallzahl.

Allerdings gebe es auch in Regionen, die vom RKI nicht als Risikogebiet eingestuft werden, FSME-Erkrankungen. „Ganz Deutschland ist eigentlich ein Risikogebiet“, betonte Dobler, es gehe eher um eine Unterscheidung in Gebiete mit niedrigem, mittlerem und hohem Risiko.

In Gebieten mit niedrigem Risiko (im Norden) träten nur sporadisch FSME-Fälle auf, in Gebieten mit mittlerem Risiko (in der Mitte Deutschlands) liege die Inzidenz bei unter 1:100.000 Einwohner und in Gebieten mit hohem Risiko (v.a. Baden-Württemberg und Bayern, aber auch Teile Thüringens und Sachsens) bei über 1:100.000 Einwohner.

Das habe Auswirkungen auf die Impfstrategie, man müsse viel individueller auf die lokale Risikosituation eingehen. Dobler: „Hotspots für die Impfaktivität sollten etwa Oberbayern, Schwaben, Niederbayern und Sachsen sein.“

Fazit

  • Ein neuer Antikörpertest ermöglicht eine Einschätzung der tatsächlichen FSME-Infektionszahlen auf Basis von Blutspenden.
  • Für das Hochrisikogebiet Ortenaukreis haben die Daten einen Manifestationsindex (Anteil der Infizierten mit Symptomen an Gesamtheit der Infizierten) von zwei Prozent ergeben. 98 Prozent aller Infektionen verlaufen demnach klinisch stumm.
  • Ganz Deutschland kann als Risikogebiet angesehen werden, in einigen Gebieten ist das Risiko niedrig, in anderen mittel oder hoch. Das hat Auswirkungen auf die Impfstrategie, die individueller auf die jeweilige lokale Risikosituation angepasst werden sollte. Hotspots für die Impfaktivität sollten etwa Oberbayern, Schwaben, Niederbayern und Sachsen sein.

Quellen:

[1] Epid Bull 9/24

[2] doi 10.2807/1560-7917.ES.2023.28.12.2200408

 

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