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Interview mit STIKO-Mitglied Dr. Thomas Ledig“Wir waren damals auch sehr zerrissen”

Selten stand die Ständige Impfkommission (STIKO) so im Fokus und teils in der Kritik der Öffentlichkeit wie in der Corona-Pandemie. Nun geht die Covid-Impfung in die Regelversorgung über. Für "Der Hausarzt" gewährt Dr. Thomas Ledig, Hausarzt und STIKO-Mitglied, einen Blick hinter die Kulissen des Gremiums.

Wenn die STIKO eine Impfung empfiehlt, wird diese in die Regelversorgung der GKV übernommen.

Herr Dr. Ledig, Sie sind bereits seit 2011 Mitglied der STIKO. Wie läuft der Prozess, bis eine Impfung empfohlen wird, ab?

Ledig: Voraussetzung ist zunächst, dass ein Impfstoff zugelassen ist. Dann erarbeitet die Geschäftsstelle der STIKO, das sind hauptamtlich Angestellte am Robert Koch-Institut, eine systematische Übersicht. Das Ganze ist recht streng geregelt.

Nach einer Standardvorgehensweise werden neue und auch bestehende Impfungen bewertet. Aus den vorliegenden Studien wird dann ein systematisches Review erstellt. Das kostet viel Zeit und Arbeit. Im Anschluss berät die STIKO als Organ die Ergebnisse und stellt Fragen.

Im nächsten Schritt wird unter Umständen eine Modellierung oder Berechnung in Auftrag gegeben, ob ein Impfstoff zum Beispiel für bestimmte Gruppen der Bevölkerung infrage kommt. Dabei muss man immer wieder sagen: Die STIKO ist nicht dafür zuständig, die Wirksamkeit einer Impfung zu beurteilen. Vielmehr geht es um Empfehlungen: Ist eine Impfung für einzelne, für Risikogruppen, für Teile oder die ganze Bevölkerung sinnvoll?

Ein gutes Beispiel hierfür ist etwa die HPV-Impfung für Mädchen zur Verhinderung eines Zervixkarzinoms. Später kam die Empfehlung für Jungen hinzu.

Wie lange dauert solch ein Prozess?

Es kommt auf die Zahl und die Güte der Studien an, die verfügbar sind. Eine systematische Literaturrecherche, bei der umfassend alle zu diesem Thema weltweit existierende Literatur gesichtet wird, nimmt meist mehr als ein Jahr in Anspruch.

Auch die Erarbeitung eines mathematischen Modells benötigt mindestens ein Jahr. So dauert die Erarbeitung einer neuen STIKO-Impfempfehlung im Durchschnitt zwischen ein bis drei Jahren.

Wie kann man sich das vorstellen? In der STIKO sind derzeit 18 Mitglieder gelistet. Treffen sich diese 18 Mitglieder und beraten dann über die Studienergebnisse?

Die Mitglieder arbeiten meistens in verschiedenen Arbeitsgruppen. Es gibt Arbeitsgruppen zum Beispiel zu Masern, Meningokokken, Pneumokokken etc. Jedes Mitglied ist in der Regel in zwei, drei oder mehr Arbeitsgruppen tätig.

Die Treffen finden in kleinem Rahmen statt, oft sind auch externe Personen dabei. Die kleinen Gruppen dienen der Vorbereitung für die STIKO-Beratungen, die in der Regel dreimal im Jahr stattfinden. Unter Pandemiebedingungen fanden sie jedoch wöchentlich statt. Die Evidenzlage änderte sich quasi täglich.

Bei den 18 Mitgliedern sind Virologen, Tropenmediziner, Epidemiologen etc. dabei. Prof. Eva Hummers und Sie vertreten die Hausärzte. Wie kommt es zu dieser Zusammensetzung?

Die Berufung der Mitglieder geht ja vom Bundesgesundheitsministerium aus. Die Idee der Politik ist, möglichst alle Vertreter relevanter Fachgruppen zusammenzubekommen. Dazu gehört neben den Genannten beispielsweise auch die Immunologie, die Reisemedizin und ganz wichtig, der öffentliche Gesundheitsdienst. Die Kinder- und Jugendmedizin und die Gynäkologie sind ebenfalls vertreten.

Wir Hausärzte sind zwar keine Epidemiologen, Bakteriologen, Immunologen. Dennoch ist die Zusammensetzung wichtig, weil fachliche Expertise aus allen Fachrichtungen zusammenkommt und sehr gute Diskussionen entstehen, die häufig Licht ins Dunkel bringen.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Eins meiner Lieblingsbeispiele ist die Impfung gegen Meningokokken B, die es schon lange gibt. Kinder- und Jugendärzte fragen zum Beispiel häufiger: Warum wird diese Impfung nicht empfohlen? Auch die Pädiater in der STIKO haben in ihren Praxen und Kliniken schon eine ganze Anzahl von Kindern mit Meningokokken-B-Infektionen erlebt.

Diese Verläufe sind immer sehr erschütternd – und da braucht es dann auch die Korrektur durch die Frauen-, Hausärzte oder auch der Bakteriologen und Epidemiologen, die sagen: “Stopp. Die Impfstoffe, die wir haben, sind wahrscheinlich, aufgrund der vorhandenen Antigene in Deutschland, gar nicht so wirkungsvoll wie zum Beispiel in Großbritannien.”

An dieser Stelle möchte ich erwähnen: In der STIKO sitzen auch Vertreter aus dem benachbarten Ausland – derzeit aus Österreich und den Niederlanden.

Warum Vertreter aus anderen Ländern?

Zwar spricht die STIKO nur Impfempfehlungen für Deutschland aus. Dennoch ist der Blick über die Grenzen wichtig – auch um zu sehen: Wie machen es die anderen und wie sieht dort das Entscheidungsverfahren aus?

Apropos andere Länder: In der Pandemie haben viele die STIKO kritisiert und gefragt: Warum geht das nicht schneller mit den Empfehlungen bei den Impfungen gegen Covid-19?

Das hängt wieder mit der Arbeitsweise der STIKO zusammen, die schon sehr streng – fast lähmend – evidenzbasiert ist. Wir wollten und haben auch in der Pandemie daran festgehalten, Studienergebnisse abzuwarten, um sagen zu können: “Da ist der Nutzen größer als der Schaden.”

Andere Kommissionen in anderen Ländern entscheiden da sehr viel pragmatischer. Allerdings gilt auch: Wenn es keine Evidenz gibt, können Sie auch nicht evidenzbasiert empfehlen. Das war ein wesentlicher Hemmschuh; deshalb hat es zum Beispiel für die Covid-Impfempfehlung für Jugendliche unter 18 so lange gedauert.

Finden Sie die Vorgehensweise der STIKO gut oder würden Sie die pragmatischere Variante bevorzugen?

Wir waren damals auch sehr zerrissen und haben uns gefragt, ob wir angesichts der damaligen, zunächst mal nicht sicheren Bedrohung, die Impfung schneller empfehlen sollten. Zunächst gab es jedenfalls keine guten Gründe zur Empfehlung.

Außerdem steckte uns allen noch das Jahr 2009 und die Schweinegrippe in den Knochen. Da hatte sich die vermeintliche Bedrohung bekanntlich ganz anders entwickelt als befürchtet.

Was denken Sie im Rückblick: Hätte die STIKO etwas anders machen können oder müssen?

Wir hatten erst Anfang März eine Sitzung, in der ein wesentlicher Punkt war: Was haben wir gelernt? Brauchen wir für die nächste Pandemie ein anderes Verfahren? Aber unsere Tendenz geht dahin, am Standardverfahren festzuhalten und weiter streng evidenzbasiert und kritisch zu arbeiten – aber das braucht eben wahnsinnig viel Zeit.

Und das ist in einer Pandemie schwer vermittelbar. Wir waren deshalb sehr überrascht und erfreut über die sehr positiven Kommentare, die von der Ärzteschaft aus Deutschland kamen. Viele Hausärztinnen und Hausärzte haben auch gesagt: Wir warten lieber auf die Empfehlung der STIKO, als einfach loszulegen.

Impfschäden und Long-Covid hat der Bundestag Mitte März diskutiert. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach hatte von durchschnittlich 1 Schaden auf 10.000 Impfungen gesprochen. Was bedeutet das? Ist das ein hohes oder ein kleines Risiko?

Das ist eigentlich ein recht kleines Risiko. Bedenken Sie, dass der Begriff Impfschaden sehr ungenau ist und alles abdeckt, von der mehrere Tage anhaltenden impfbedingten Beeinträchtigung über die viel selteneren Myokarditiden bis hin zu den sehr seltenen Todesfällen nach Impfung – meist bei Höchstbetagten oder multimorbiden Patienten.

Insgesamt scheinen aber bleibende Schäden nach der Impfung viel seltener als die von Minister Lauterbach genannte Zahl. Ganz genau kann das derzeit niemand sagen. Denn Sie müssen immer bedenken: Wenn die gesamte Bevölkerung durchgeimpft wird, kann nahezu jede Erkrankung, die nach der Impfung auftritt, zunächst als mögliche Folge der Impfung gewertet werden.

Auch muss unterschieden werden: Handelt es sich um einen zeitweisen oder dauerhaften Impfschaden?

Es hieß in der Pandemie immer wieder, dass die Politik großen Druck auf die STIKO ausübt, damit diese schneller handelt. Wie haben Sie das erlebt? Haben Sie einen solchen Druck empfunden?

Das konnte man ja alles in den Zeitungen nachlesen. Auf uns direkt oder auf die Mitglieder der STIKO wurde kein spürbarer Druck ausgeübt. Anders hat das sicher der Vorsitzende Prof. Thomas Mertens empfunden, der an vorderster Front stand und einiges abfangen und aushalten musste.

Die Corona-Impfung soll bald in die Regelversorgung überführt werden. Was bedeutet das und wie läuft das ab?

Überführung in die Regelversorgung bedeutet die Aufnahme der Covid-Impfung in die Standard-Empfehlungen. Dafür muss – mit unserem heutigen Erkenntnisstand – genau geschaut werden, für welche Altersstufen, für welche Indikationsgruppen welche Covid-Impfstoffe empfohlen werden, und wie häufig Auffrischungen sinnvoll sind. Dann können bundesweite Empfehlungen formuliert werden.

In einem zweiten Schritt muss dann noch der Gemeinsame Bundesausschuss darüber entscheiden, ob die Gesetzliche Krankenversicherung für diese empfohlenen Impfungen aufkommen soll. Erst dann haben Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung Anspruch auf die Übernahme der Kosten für die Impfung.

Ansonsten hat jedes Bundesland eigene Impfempfehlungen. Die Empfehlungen in Baden-Württemberg beispielsweise können von denen der STIKO abweichen. Die Sachsen leisten sich sogar eine eigene Impfkommission – die Siko.

Sachsen empfiehlt zum Beispiel einige Impfungen, die wir so nicht generell empfehlen – etwa die Meningokokken B-Impfung. Wenn ein Kinderarzt diese Impfung anbietet, müssen Versicherte die Kosten selbst tragen oder eine Genehmigung für die Kostenübernahme von der Krankenkasse einholen.

Die Impfempfehlungen der Länder dienen dabei der Schadensbegrenzung – sprich, wenn ein Land eine Impfempfehlung ausspricht und ein Bürger des Landes erleidet einen Impfschaden, hat er Anspruch auf eine Entschädigung.

Es gibt gewiss auch Impfungen, bei denen sich die STIKO-Mitglieder nicht einig sind, ob eine Empfehlung ausgesprochen werden soll. Wie wird dann eine Entscheidung gefällt?

Es wird abgestimmt und die einfache Mehrheit entscheidet – schon eine Stimme mehr kann den Ausschlag geben. Ausgeschlossen bei der Abstimmung sind STIKO-Mitglieder, bei denen ein Interessenkonflikt bestehen könnte.

Interessenskonflikte sind dabei auch nicht unüblich. Hausärzte sind hier eher unbeleckt, aber wenn beispielsweise der Leiter eines Instituts zum Herpes Zoster Virus forscht, der erhält natürlich für seine Forschung Drittmittel.

Haben Sie als Hausarzt und Mitglied der STIKO einen Wunsch an Hausärztinnen und Hausärzte?

Zunächst möchte ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die der STIKO in der Pandemie den Rücken gestärkt haben. Mein persönlicher Wunsch wäre, dass Hausärztinnen und Hausärzte Impfnebenwirkungen weiterhin grundsätzlich melden.

Auch wenn es neben all dem täglichen Praxisstress schwierig ist, noch Meldebögen auszufüllen. Das weiß ich aus meiner Praxiserfahrung. Wir haben nur keine andere Möglichkeit, um Impfnebenwirkungen und -schäden zu erfassen.

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