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Serie Gender-MedizinPatientenansprache: Mehr als nur “Herr” oder “Frau”

Je nach Standort der Praxis versorgen Hausärztinnen und Hausärzte mit ihren Teams mehr oder weniger oft auch LGBTQIA+-Menschen. Verschiedene Schritte können das Vertrauen in der Arzt-Patienten-Beziehung stärken. Einer davon: die Ansprache.

Im täglichen Kontakt mit ihren Patientinnen und Patienten sind Hausärzte, aber auch ihre Medizinischen Fachangestellten (MFA) im Erstkontakt am Empfang, nicht selten mit eigenen (unbewussten) Wertevorstellungen und Vorurteilen konfrontiert.

Dies zeige sich besonders im Kontakt mit LGBTQIA+-Menschen, “also vereinfacht gesagt allen Menschen, die nicht der binär-heterosexuellen-monogamen gesellschaftlichen Norm” entsprechen, erklärte Dr. Philip Oeser vom Institut für Allgemeinmedizin der Charité bei der practica [1].

Entscheidend dabei: “Es gibt keine falschen Gedanken oder Gefühle, aber wir müssen diese reflektieren.” So berge eine zunächst möglicherweise wahrgenommene Irritation etwa die Chance, etwas zu lernen. Wichtig in der Praxis: “Wir sind da, um zu helfen, nicht um zu urteilen”, fasst Oeser einen aus seiner Sicht wichtigen Merksatz zusammen.

Dies sei umso wichtiger, da gerade bei sensiblen oder intimen Themen eine beschämende Reaktion verheerende Folgen haben kann, weiß Oeser, der regelmäßig in einer Berliner Praxis mit hohem Anteil an LGBTQIA+-Menschen tätig war. “Menschen, die sich in der Praxis einmal beschämt gefühlt haben, reden hier nie mehr offen über ihre Probleme.”

Cave: Ein gezieltes Abfragen von Angaben zu Geschlecht und Sexualität kann auch als Eingriff in die Privatsphäre wahrgenommen werden, sagt er. Es gehe vielmehr darum, Gesprächsangebote zu schaffen. Dies sei wichtig, da Studien zufolge LGBTQIA+ ebenso häufig hausärztlich betreut seien wie nicht-queere Menschen [2].

Dabei können verschiedene Bausteine helfen, eine offene und diskriminierungsfreie Atmosphäre zu schaffen:

  • eine geschlechtsneutrale Gestaltung der Toiletten,
  • Hinweise, dass LGBTQIA+ willkommen sind, auf Webseite oder Praxisschild sowie
  • Schulungen zum Thema fürs Praxisteam.

Dies seien nur einige Ideen, gibt Oeser in seinem Seminar zum individuellen Weiterdenken mit auf den Weg.

Drei Schritte zur richtigen Anrede

Ein weiterer Baustein ist die korrekte Ansprache. Hier formuliert Oeser drei Tipps:

  1. Anamnesebogen anpassen: Neben den klassischen binären Geschlechtsangaben kann anstelle des mittlerweile üblichen “divers” eine Freizeile für mögliche weitere Angaben sowie die gewünschte Anrede angeboten werden.
  2. Wenn Unklarheiten sind, rät Oeser dazu, ganz offen und freundlich nachzufragen, wie die betroffene Person angesprochen werden möchte.
  3. Wenn eine gewünschte individuelle Anrede bekannt ist und beispielsweise Personen im Prozess einer Geschlechtsangleichung bereits mit einem neuen Vornamen angesprochen werden wollen, der jedoch noch nicht amtlich eingetragen ist: Im Praxisverwaltungssystem (PVS) prüfen, ob ein Pop-up-Fenster in der entsprechenden Patientenakte einzurichten ist, sodass das Team am Empfang direkt die korrekte Ansprache wählen kann.

Cave: Auf dem Rezept muss in jedem Fall der amtlich korrekte Name stehen.

Aus der eigenen Praxiserfahrung berichtete Oeser zudem, dass auch das klassische Aufrufen im Wartezimmer zu Unwohlsein führen könne. Eine Lösung sei, im Wartezimmer nur noch mit Nachnamen aufzurufen (“Müller bitte!”), ohne Vornamen sowie Anrede “Herr” oder “Frau”. Dies sei zunächst ungewohnt gewesen, habe jedoch zu überwiegend positiven Reaktionen geführt.

Wichtig in der Praxis: Dass dies sehr praxisindividuell zu bewerten ist, zeigte sich im Austausch mit den im Seminar anwesenden MFA. Sie warnten vor dem Hintergrund anderer Praxis- und Patientenstrukturen davor, dass dies gerade ältere Menschen als unhöflich empfinden könnten.

Spezifische Prävalenzen bedenken

Darüber hinaus gelte es, bei den betroffenen Menschen die erhöhte Lebenszeitprävalenz für Depressionen sowie Einsamkeitsgefühle zu berücksichtigen und mitzudenken, gab Oeser mit auf den Weg. Gerade Trans-, Inter- und Asexuelle Menschen seien hiervon betroffen [2].

Auch Migräne (12 versus 8 Prozent) und chronische Rückenschmerzen (17 versus 12 Prozent) würden häufiger berichtet, bei Diabetes, Krebs und Bluthochdruck zeigten sich hingegen keine signifikanten Unterschiede. [3] Hier könne das gezielte, einfühlsame Ansprechen spezifischer Probleme helfen, frühzeitig an zielgruppenorientierte Angebote weiterzuleiten, so Oeser. •

Fazit

  • Das Wissen von Identität und sexueller Orientierung ermöglicht das Ansprechen spezifischer Probleme, den Abbau von Diskriminierung und die Weiterleitung an zielgruppenspezifische Angebote. Es stärkt damit insgesamt die Arzt-Patienten-Beziehung.
  • Unterstützung und Offenheit gegenüber LGBTQIA+ kann auf verschiedenen Wegen signalisiert werden: im Anamnesebogen, im Gespräch oder auf der Webseite und dem Praxisschild.
  • Die individuelle Anrede als ein Baustein kann beispielsweise durch eine Freizeile im Anamnesebogen erfragt werden.

Quellen:

  1. Seminar “Queere Patient:innen (LGBTQIA*) in der hausärztlichen Praxis”, practica, 28.10.2023
  2. Herrmann W, Oeser P et al. Loneliness and depressive symptoms differ by sexual orientation and gender identity during physical distancing measures in response to COVID-19 pandemic in Germany. Appl Psychol Health Well Being 2023 Feb;15(1):80-96. doi: 10.1111/aphw.12376
  3. DIW 06/2021, “Geringere Chancen auf ein gesundes Leben für LGBTQI*-Menschen” der befragten LGBTQIA+-Menschen erleben eigenen Angaben zufolge im Gesundheits- und Pflegebereich Diskriminierung.
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