Interview“Die Lage in den Praxen ist angespannt”

Mit breiter Unterstützung auch durch den Hausärztinnen- und Hausärzteverband machen die Medizinischen Fachangestellten (MFA) auf ihre Arbeitssituation in den Praxen aufmerksam – zuletzt mit einer Protestaktion am 8. September. Im Interview sprechen Hausärzte-Chef Dr. Markus Beier und Hannelore König, Vorsitzende des Verbandes medizinischer Fachberufe, über die dramatische Situation.

Durch fehlende Kolleginnen und Kollegen sind viele Medizinische Fachangestellte (MFA) sehr belastet.

Wie nehmen Sie die Stimmung in den Praxen heute wahr?

Dr. Markus Beier: Der Fachkräftemangel ist in allen Praxen deutlich zu spüren, sowohl im ärztlichen als auch im nichtärztlichen Bereich. Es fehlen pro Praxisteam mindestens ein bis zwei Stellen, die anderen müssen das abfedern und mitleisten. Die finanzielle Situation ist angespannt, hinzu kommt ein hohes Patientenaufkommen mit steigenden Ansprüchen.

Hannelore König: Das kann ich bestätigen. Die Lage in den Praxen ist ausgesprochen angespannt. Durch fehlende Kolleginnen und Kollegen sind viele Medizinische Fachangestellte (MFA) sehr belastet.

Hinzu kommt ein großer Druck, weil MFA die ersten Ansprechpartner sind, um Gesetzesneuerungen zu erklären und umzusetzen. Schließt eine Hausarztpraxis – gerade im ländlichen Bereich –, führt das zu einer deutlichen Überlastung in den verbleibenden Praxen.

An welchen Stellen bekommen die Mitarbeitenden das am deutlichsten zu spüren?

Beier: Das Telefon ist ein großes Thema. Deswegen treten wir als Hausärztinnen- und Hausärzteverband dafür ein, dass neben guten Gehältern auch echte Strukturreformen nötig sind. Proteste, die sich nur um Geld drehen, werden der aktuellen Situation nicht gerecht.

Wir müssen im hausärztlichen Bereich weg vom Quartalsdenken. Denn die aktuell im EBM vorgeschriebenen Arzt- Patienten-Kontakte sind alle mit Arbeits- und Telefonzeit verbunden, was die aktuelle Belastung der Praxen mitbedingt. Die Kontaktintensität darf in dem Maße bleiben und im besten Fall sogar zunehmen – aber die Kontakthäufigkeit, die ja das ganze Team belastet, muss dringend reduziert werden.

Handelt es sich um ein flächendeckendes Problem oder sind einzelne Regionen besonders betroffen?

König: Wir haben bundesweit einen Fachkräftemangel. Besonders groß ist er jedoch im Süden – vor allem Bayern sticht heraus – sowie in ländlichen Regionen und einzelnen Großstädten wie Berlin. Hier scheinen die Kliniken massiv abzuwerben.

Das ist insgesamt ein wachsendes Phänomen, aber von Großstadt zu Großstadt verschieden. Jüngst wurde mir aus Düsseldorf berichtet, dass Kliniken in großem Umfang beginnen, die eigenen Personalengpässe mit MFA aus den Praxen aufzufüllen.

Sind die Kliniken also die größten Konkurrenten für Hausarztpraxen?

König: Die Probleme sind unterschiedlich gelagert: In den Großstädten sind es die Kliniken, ja. Im Ländlichen ist es – wie auch bei der Niederlassung junger Ärztinnen und Ärzte – eher die fehlende Infrastruktur, die den Fachkräftemangel befeuert. Hier sind aus meiner Sicht die Kommunen gefragt.

MFA müssen als systemrelevante Berufe anerkannt werden und beispielsweise in der Kinderbetreuung Unterstützung erhalten. Hausarztpraxen können sich keine betriebseigenen Kindergärten leisten wie Kliniken, hier könnten und müssten Kommunen unterstützen. Ungefähr 48 Prozent der MFA arbeiten in Teilzeit, hier sehe ich Potenzial. Ich könnte mir vorstellen, dass die eine oder andere ihre Arbeitszeit aufstocken würde, wenn sie ihre Kinder gut betreut wüsste.

Beier: Das kann ich nach Rückmeldungen aus unseren Landesverbänden zu 100 Prozent unterstreichen. In den Großstädten sind es die Kliniken, Kassen und MVZ, die bessere Löhne zahlen können, weil die Kostenerstattungsstruktur andere Tarifgehälter vorsieht. Im Ländlichen hingegen ist die Infrastruktur so ausgedünnt – Bildung, Betreuung, aber auch Nahverkehr –, dass es einfach nicht attraktiv ist.

Im Ländlichen handelt es sich um ein Versagen der öffentlichen Hand, im Städtischen sind es die hohen Tariflöhne, die wir schlichtweg nicht zahlen können, weil das bislang im EBM nicht entsprechend eingepreist ist.

König: Das beobachten wir mit großer Sorge. Die Gehälter der MFA im stationären Bereich steigen im März 2024 erneut um mindestens 340 Euro. Das sind Steigerungen, die wir im niedergelassenen Bereich schlichtweg nicht abbilden können. Auch in der Altenpflege steigt der Mindestlohn. Ich gönne es den Kolleginnen von Herzen, aber wir werden schlichtweg vergessen. Ich blicke mit Sorge auf die nächste Tarifrunde.

Was ist konkret nötig, um die Gehaltslücke im ambulanten Bereich zu schließen?

Beier: Im EBM müssten Personalkosten viel höher einkalkuliert werden. Dann kann es auch höhere Abschlüsse in den Tarifverhandlungen geben.

König: Bei den aktuellen Honorarverhandlungen wurde vereinbart, die Tarifergebnisse der MFA künftig schneller in den ärztlichen Honoraren abzubilden (S. 7; Anm. d. Red.). Die Regelung greift erst ab 2025 und reduziert den Zeitverzug um lediglich ein Jahr.

Damit ist unsere Forderung nach einer vollumfänglichen und zeitnahen Gegenfinanzierung der Tarifsteigerungen, die so auch vom Deutschen Ärztetag unterstützt wurde, noch nicht vom Tisch. Die Erhöhung des TVÖD ab März 2024 bekommen die Kliniken ab März 2024 sofort gegenfinanziert. Auch im ambulanten Bereich müssen die Anpassungen zeitnah erfolgen.

Beier: Eine unserer zentralen Forderungen ist darüber hinaus eine Sicherstellungspauschale. Praxen und ihre Teams sind da, sie bieten ein Versorgungsangebot – und das muss bezahlt werden.

König: Denkbar sind natürlich auch Zuschläge wie der Team-Zuschlag in der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) …

Machen Praxischefs die Versäumnisse von Regierung und Kostenträgern bislang aus eigener Tasche wett?

Beier: Ja. Bei den Corona-Boni kann man das zum Beispiel gut sehen. Da sind die Praxischefs tätig geworden, wo der Staat es nicht getan hat. Aber natürlich kann man eine Lebensplanung nicht auf Boni aufbauen, weshalb so etwas nicht ausreicht.

Was können Hausärztinnen und Hausärzte abseits des Gehalts tun, um MFA in ihrer Praxis zu halten?

König: In unserer aktuellen Befragung haben 78 Prozent der Teilnehmenden angegeben, dass Karriere und persönliche Weiterentwicklung wichtige Kriterien für sie sind. Hier können die Arbeitgebenden Angebote machen. Im hausärztlichen Bereich beobachte ich das bereits, hier tun die Arbeitgebenden sehr viel für eine gute Mitarbeiterbindung.

Gehalt ist zwar die wichtigste Stellschraube, hier fühlen sich MFA zurückgesetzt und zu wenig gesehen – aber andere weiche Faktoren wie ein gutes Betriebsklima und eine persönliche Karriereperspektive sind auch entscheidend.

Beier: Das Angebot der Fort- und Weiterbildung ist wichtig. Das zeigen auch die Zahlen: 16.000 MFA haben sich bereits zur Versorgungsassistenz in der Hausarztpraxis (VERAH®) weiterqualifiziert, auch das von uns mitgestaltete Curriculum des berufsbegleitenden Studiums kommt gut an.

Zu betonen, dass es Aufstiegsmöglichkeiten gibt, kann helfen, den Ausstieg zu vermeiden. Das muss aber auch von den Vorgesetzten ermöglicht und vorgelebt werden.

…ein Pfund auch im Vergleich zu den Klinik-Konkurrenten.

Beier: Ja. Man darf hier aber auch nicht in Schwarz und Weiß denken. Ich gebe zu, dass wir in der Vergangenheit auch schon gezielt MFA aus Kliniken in die Praxis geholt haben, denn auch dafür gibt es ja entscheidende Vorteile: Etwa, wenn jemand aus den Mühlen des Schichtdienstes raus will. Als VERAH® ein Praxisteam zu leiten, ist eine viel verantwortungsvollere und kreativere Aufgabe als wenn ich in der Klinik das x-te Rad am Wagen bin.

König: Auch aus unseren Umfragen wissen wir, dass wir solche Bewegungen zwischen den einzelnen Bereichen haben. Vier Prozent der MFA kamen zuletzt aus der Pflege.

Viele Hoffnungen mit Blick auf die Zukunft liegen in der Digitalisierung. Sehen Sie hier Potenzial, die Lage zu entschärfen – beispielsweise mit digitalen Telefonassistenzen oder Online-Terminkalendern?

König: Zumindest können solche Tools Stand heute eine zeitliche Entzerrung bieten. Die Arbeitszeit bleibt auch mit dem Einsatz solcher Tools identisch, aber der Stressor “alle wollen was gleichzeitig” fällt weg. Die Hauptbelastung Telefon kann dadurch entspannt werden. Viele MFA berichten mir von bis zu 250 Anrufen pro Stunde, das ist eine enorme Stressbelastung!

Beier: Der Ansatz, wie Digitalisierung in Deutschland gedacht wird, ist jedoch ein völlig falscher. Es steht nicht Praktikabilität im Vordergrund. Wir Hausärztinnen und Hausärzte und unsere MFA haben das auszubaden. Ein Beispiel: Dass die E-AU pro Vorgang einige Sekunden mehr braucht, kann einfach nicht sein. Im Praxisalltag zählt jede Sekunde.

Mit Blick auf die Zukunft: Was macht Sie hoffnungsfroh und was bereitet Ihnen Sorge?

Beier: Hoffnungsfroh machen mich die steigenden Ausbildungszahlen. Wir haben eine Chance, dass junge Menschen diesen Beruf ergreifen. Die Gefahr ist aber, dass wir nicht das Gehör finden – sowohl in der Politik als auch in der Selbstverwaltung! -, um die Rahmenbedingungen zu schaffen, um MFA bei der Stange zu halten.

König: Da bin ich bei Ihnen, die Ausbildungszahlen lassen auch mich hoffen. Gerade in hausärztlichen Praxen wird besonders gut ausgebildet, das weiß ich aus Gesprächen mit Auszubildenden. Die größte Herausforderung ist, diese jungen MFA nicht innerhalb der ersten fünf Berufsjahre zu verlieren.

Ich würde mir wünschen, dass jeder Landrat die Entwicklung in der hausärztlichen Versorgung beobachtet, wie er es in der Diskussion um Klinikschließungen tut. Da müssen die kommunale Ebene und der Landrat ebenso wie Landes- und Bundesgesundheitsminister Wertschätzung zeigen – und die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen.

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