Ob tags oder nachts, bei dringenden Problemen gibt es viele Anlaufstellen: vertragsärztliche Praxen, ärztlicher Bereitschaftsdienst (ÄBD) der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), Rettungsdienst und Kliniken. Da sich die öffentliche Diskussion vor allem um überfüllte Notaufnahmen dreht, wird schnell vergessen, dass ambulant weit mehr Menschen akut versorgt werden.
Dem Statistischen Bundesamt zufolge rechneten Kliniken von 16,5 Millionen Notfällen in 2021 mehr als die Hälfte (8,8 Millionen) ambulant mit den KVen ab. Zusätzlich behandelte der ÄBD direkt 6,1 Millionen Fälle. [1] Und rund 200 Millionen Akutfälle versorgten Niedergelassene in ihren Praxen [2].
Interessant ist dabei, dass die Konsultationen in den Notaufnahmen nur bis 2016 zunahmen – seitdem bleibt die Fallzahl auf diesem Niveau konstant (die sinkende Zahl in den Coronajahren 2020/2021 außen vorgelassen), wobei die Überlastung bestehen bleibt. Eine der Ursachen dafür sei der weiter zunehmende Personalmangel, resümieren Forscher [1].
“Damit in dringenden Fällen optimal behandelt werden kann, müssen wir die Menschen also mehr unterstützen, die für sie richtige Anlaufstelle zu finden”, sagt Dr. Markus Beier, Bundesvorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes. Dafür müsse in erster Linie zwischen Akut- und Notfällen besser unterschieden – und dies von der Politik auch an Patientinnen und Patienten mit einer Kampagne kommuniziert werden.
Doppelstrukturen verhindern
“Es muss Schluss sein mit: Alle machen immer alles!”, präzisiert Co-Bundesvorsitzende Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth. Um die insgesamt knappen Ressourcen zu schonen, plädiert der Verband in einem gemeinsamen Positionspapier mit Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Marburger Bund dafür, die vorhandenen Strukturen effizienter einzusetzen.
Während der Öffnungszeiten sollten sich Menschen mit akuten Beschwerden an ihre Hausärztinnen und Hausärzte wenden. Um lebensbedrohliche Fälle kümmern sich Rettungsdienst und Kliniken. Haben die Praxen geschlossen, übernimmt der ÄBD die Akutversorgung. Da viele Menschen dieses Prinzip nicht ausreichend kennen oder ihre Beschwerden anders einschätzen, sei hier eine bessere Steuerung nötig.
So sollte zu Unzeiten bei dringenden Problemen zunächst die Nummer 116 117 gewählt werden. Mithilfe eines standardisierten Verfahrens zur Ersteinschätzung kann medizinisches Fachpersonal die Anrufenden an die richtige Stelle – ähnlich eines Ticketsystems – verweisen: etwa eine ÄBD-Praxis oder den fahrenden Dienst, einen Praxisbesuch am Folgetag oder bei Notfällen an Rettungsdienst und Notaufnahmen. Hierfür wäre die 116 117 an die Notfallnummer 112 angebunden.
Wer selbstständig die Ambulanz aufsuche, müsse dort nach dem von KV und Klinik gemeinsam geführten “Ein-Tresen-Prinzip” in die für ihn richtige Ebene geleitet werden: ÄBD, Praxisbesuch am Folgetag oder stationäre Aufnahme. Zu Zeiten mit sehr wenigen Patienten (etwa nachts) übernimmt die Notaufnahme auch die Akutbehandlung.
“Mit einer verbindlichen Telefoneinschätzung würde ein Großteil der Akutfälle an die für sie richtige Anlaufstelle – Praxen oder KV-Notdienst – geleitet”, ist sich Beier sicher. Das bestätigt die Studie DEMAND [3]. Sie hat SmED (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland) als Sortierinstrument über die 116 117 sowie in “Ein-Tresen-Standorten” bei knapp 530.000 Fällen erprobt.
Über die Dauer der Studie nahm demnach die Zahl der Notfälle in Ambulanzen ab. Die Sterblichkeit stieg nicht und es traten keine ungewollten Verlagerungseffekte in den stationären Sektor auf.
Verschiedene Experten schätzen, dass in etwa ein Drittel bis die Hälfte der Ambulanzfälle – gerade Selbsteinweisende – ambulant zu behandeln sind [1]. “Eine bessere Steuerung würde nicht nur zur Entlastung der Notaufnahmen beitragen, sondern die Menschen würden auch medizinisch besser versorgt, zum Beispiel weil sich Notärzte auf echte Notfälle konzentrieren können”, ist Haus- und Notarzt Dr. Simon Sitter überzeugt (s. Kasten unten).
Ähnliches belegt das Modell der Allgemeinmedizinischen Praxis am Campus (APC) der Uniklinik Mainz (s. Kasten unten): Hier können gut Dreiviertel derjenigen, die fußläufig die Notaufnahme aufsuchen wollen, durch die APC ambulant behandelt werden, erzählt APC-Leiterin und Allgemeinmedizinerin Dr. Birgit Schulz.
Das Beispiel macht aber auch deutlich, es fällt bereits jetzt schon schwer, das nötige Personal zu finden, um solche Strukturen zu leben. Diese Fachkräfte fehlen dann wiederum in der Regelversorgung, sagt Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth vom Hausärztinnen- und Hausärzteverband.
“Angesichts des überall knappen Personals können wir uns Doppelstrukturen parallel zu Praxisöffnungszeiten schlichtweg nicht leisten”, betont die Bundesvorsitzende etwa auch mit Blick auf die Pläne des Bundesgesundheitsministers zu telemedizinischen Beratungsangeboten.
Minister will 24/7-Service
Mitte Januar stellte Minister Prof. Karl Lauterbach (SPD) seine Eckpunkte für eine Notfallreform vor. Wie der Verband will auch er 116 117 und 112 digital und telefonisch vernetzen, um Menschen darüber besser zu steuern.
- Allerdings will er parallel die Akutversorgung über die 116 117 ausbauen: Neben der Terminvermittlung sollen Beratungsärztinnen und -ärzte der Terminservicestellen (TSS) telefonisch oder telemedizinisch Anrufende “möglichst fallabschließend” beraten, um die Regelversorgung (also meist Vertragsarztpraxen) zu entlasten. Zu wenig nachgefragten Zeiten sollen KVen und KBV kooperieren können, damit keine Doppelstrukturen entstehen, heißt es in den Eckpunkten. Federführend soll die TSS weiter vertragsärztliche Termine vermitteln, bei Akutfällen soll auch in den ÄBD oder Hausbesuchsdienst sowie im Notfall an die 112 verwiesen werden.
- Den ÄBD sollen die KVen so ausbauen, dass Ärztinnen und Ärzte bei akuten Problemen rund um die Uhr telefonisch oder per Videoanruf zur Verfügung stehen. Immobile sollen 24/7 Hausbesuche bekommen können, entweder von Ärzten oder von qualifiziertem nichtärztlichen Personal/Notfallsanitätern mit ärztlicher telemedizinischer Unterstützung. “Ein Rund-um-die-Uhr- Angebot ist weder medizinisch nötig noch setzt es die personellen Ressourcen effizient ein”, kritisiert hingegen der Verband.
- Daneben sollen angedockt an ausgewählte Kliniken Integrierte Notfallzentren (INZ) entstehen, bestehend aus Notaufnahme, ÄBD-Praxis und Ersteinschätzungsstelle. Den “einen Tresen” sollen Kliniken verantworten und die Versicherten in ÄBD, Notaufnahme oder Weiterbehandlung in der Regelversorgung vermitteln. Die ÄBD-Praxen sollen wie folgt öffnen:
- Mon-, Diens- und Donnerstag 18-21 Uhr,
- Mittwoch und Freitag 14-21 Uhr,
- Wochenende/Feiertag 9-21 Uhr.
- Bei Bedarf (etwa ÄBD geschlossen) sollen INZ mit Praxen und Apotheken kooperieren können.
- Vereinzelt sollen sie sogar Arzneien direkt abgegeben dürfen. Dies sei aber medizinisch umstritten, so der Verband.
- Ebenso sollen Krankschreibungen den INZ und dem ÄBD-Besuchsdienst erlaubt werden.
24/7-Beratung stößt an Grenzen
Zu 80 Prozent verwirkliche die KV Berlin mit ihren Notdienstpraxen bereits seine Vorstellungen, sagte Lauterbach Mitte Januar. So sind alle elf Notdienstpraxen an Rettungsstellen angegliedert und es wird an “einem Tresen” zugeteilt. Ebenso sind bereits die 116 117 und die 112 miteinander verbunden, um Notfälle dorthin zu übergeben. Menschen erreichen rund um die Uhr die 116 117:
Hier wählen sie zunächst, ob es sich um ein akutes Problem (ÄBD) oder eine Terminvermittlung (für die TSS) handelt. Anhand von SmED nimmt Fachpersonal die Ersteinschätzung vor und leitet in die nötige Versorgungsebene weiter. Neben Vertragsarztpraxen, ÄBD und Fahrdienst kann dies auch ein Telefonat mit Beratungsärztinnen und -ärzten sein.
Diese Beratung wird mit einem Arzt/Ärztin je Schicht rund um die Uhr angeboten. Zwei Drittel der Gespräche können Anliegen abschließend klären, so die KV. Jedoch musste das Angebot von zwei auf einen Arzt pro Schicht reduziert werden, weil die Kassen die Finanzierung verweigerten.
Zwar könne man zeigen, wie Steuerung funktionieren kann, sagte KV-Vorsitzender Burkhard Ruppert Mitte Januar. “Wir stoßen aber finanziell und personell an unsere Grenzen.” Die KV frage sich daher, woher das zusätzliche Personal für die vom Minister geplante Stärkung rund um die 116 117 kommen soll.
Die insgesamt nötigen Personalressourcen sind ebenso für den Hausärztinnen- und Hausärzteverband der zentrale Knackpunkt. “Bei jedem Arzt und jeder Ärztin sowie medizinischem Fachpersonal, das wir in der Notfallversorgung einsetzen, müssen wir immer mit bedenken, dass diese in der Regelversorgung fehlen!”, gibt Hausärztechef Dr. Markus Beier zu bedenken.
Sog der INZ befürchtet
“Müssen KVen künftig 24/7 eine telemedizinische Beratung sowie einen Besuchsdienst aufbauen, entstehen während den Sprechstundenzeiten unnötige Doppelstrukturen zu den vertragsärztlichen Praxen”, ergänzt Co-Bundesvorsitzende Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth.
Zusätzlich werde für Versicherte weniger klar, dass zu Praxiszeiten die Hausärztinnen und Hausärzte erste Anlaufstelle bei akuten, nicht lebensbedrohlichen Beschwerden sind. Die gewünschte Steuerung über die 116 117 könne somit sogar ins Gegenteil umschlagen und einen Sog hin zur Notfallversorgung bewirken.
“Es ist daher nötig, die Perspektive der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte bei der Akut- und Notfallreform endlich zu berücksichtigen”, betont Beier. Eigentlich soll das Gesetz im Januar 2025 in Kraft treten. Doch einen Termin, wann das Bundeskabinett über die Reform entscheidet, gab es Mitte Februar noch nicht.
Quellen:
- Starke E, von Stillfried D. Akut- und Notfallversorgung – Quo vadis? Eine neue Reformroute muss die Rahmenbedingungen dauerhaft knapper Personalressourcen berücksichtigen. Gesundheitswesen aktuell 2023, S. 114-136; doi: 10.30433/GWA2023-114
- Pressemitteilung des Zi vom 4.5.2023 (zuletzt abgerufen 29.2.24)
- Ergebnisbericht DEMAND (zuletzt abgerufen 29.2.24)