Berlin. Hoher Arbeitsdruck, steigende Kosten, nervige Bürokratie – jede zweite Ärztin bzw. Arzt möchte nicht die eigene Praxis bis zum Rentenalter fortführen, 20 Prozent denken gar darüber nach, den Bettel ganz hinzuwerfen. Das sind fatale Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), auf die Dr. Andreas Gassen, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), bei der KBV-Vertreterversammlung am Freitag (13.9.) hinwies.
Dabei trügen die Gesetzesvorhaben von Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) nicht dazu bei, die Stimmung unter den Niedergelassenen zu verbessern. Keines der geplanten Gesetze sorge für mehr Arztzeit oder mehr Ärztinnen und Ärzte. Kaum eines sei geeignet, die Versorgung zu verbessern. Wichtig sei eine “durchdachte und in sich schlüssige Gesundheitspolitik mit Augenmaß”, sagte Gassen.
Als einzige Lichtblicke nannte Gassen die geplante hausärztliche Entbudgetierung sowie die Einführung einer Bagatellgrenze bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen. Das reiche zwar bei weitem nicht, sei aber ein erster Minimalschritt in die richtige Richtung.
Regress über 27 Cent
Zu der wichtigen Einführung einer Bagatellgrenze von 300 Euro hatte Hausarzt Dr. Matthias Berndt, KV Niedersachsen und Vorsitzender des Hausärzteverbandes Niedersachsen, ein eindrückliches Beispiel parat. Vor einem halben Jahr habe er einen Regressantrag über 27 Cent für den Empfang eines elektronischen Arztbriefes erhalten.
Bei seiner Recherche zeigte sich: Die Praxis hatte einen Brief von einem Facharztkollegen erhalten, der Patient war aber drei Tage zuvor gestorben. Diese Info gab die Praxis an die KV, die wiederum die Kasse von dem Fall unterrichtete.
Der Kassenmitarbeiter stellte sich jedoch weiterhin auf den Standpunkt: Der Patient war verstorben, deshalb bestand keine Leistungspflicht mehr bei Empfang des Arztbriefs. Die KV wiederum gab die Info an die Praxis Berndt weiter mit dem Hinweis, dieser könne gegen den Regress klagen. „Darauf habe ich verzichtet“, sagte Berndt. Wenn man berechne, wieviel Zeit diese Hin- und Her-Vorgänge zwischen Kasse, KV und Praxis benötigt hätten, käme man auf ein paar hundert Euro, erklärte Berndt vor der Vertreterversammlung. Das seien die Perversitäten, die zu Frust bei den Ärztinnen und Ärzten führten, unterstrich Berndt.
Statt ambulant vor stationär: Kliniken bevorzugt
Obwohl eigentlich der Grundsatz “ambulant vor stationär” nicht nur im Gesetzbuch stehe, sondern angesichts knapper finanzieller und personeller Ressourcen dringend umgesetzt werden müsste, bevorzuge das SPD-geführte Gesundheitsministerium den stationären Sektor finanziell überproportional, kritisierte Gassen.
Jeder dritte Euro an GKV-Beitragsgeldern fließe bereits in die Krankenhäuser. 2024 würden die Ausgaben für die Krankenhäuser voraussichtlich 100 Milliarden Euro überschreiten.
Bei den Verhandlungen um den Orientierungswert sei positiv, dass erstmalig die Tarifsteigerungen für die Medizinischen Fachangestellten unmittelbar berücksichtigt würden und nicht erst zwei Jahre später, sagte Gassen und wies darauf hin, dass die Krankenkassen aktuell die Probleme der Praxen erkannt hätten und wüssten, dass die von ihnen zuerst vorgeschlagenen rund 1,6 Prozent Plus nicht ausreichen würden.
Zuversicht bei Honorarverhandlungen
Er sei zuversichtlich, dass noch eine Einigung beim Orientierungspunktwert erzielt werden könne, auch wenn das nichts an der grundsätzlichen Unterfinanzierung der Praxen ändern werde.
“Uns geht finanziell die Luft aus”, mahnte Dr. Barbara Römer, KV-Rheinland-Pfalz und Mitglied im Bundesvorstand des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes. Die Honorarverhandlungen dürften nicht nur ein guter Kompromiss sein und die Praxen hätten keine Zeit mehr, auf eine Änderung der Finanzierungssystematik zu warten.
Kassen schüren falsche Erwartungen
„Wenn das GVSG aufgrund der gesetzgeberischen Fristen bis zum Ende der Legislatur gar nicht mehr kommt, dann ist mutmaßlich auch die Entbudgetierung bis auf Weiteres nichts als heiße Luft des Ministers.”
Bezüglich der Digitalisierung kritisierte KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner, dass die Krankenkassen bei Versicherten hohe Erwartungen bezüglich der elektronischen Patientenakte (E-PA) wecken würden, die die Praxen nicht erfüllen könnten.
An die Krankenkassen und das Bundesgesundheitsministerium richtete Steiner die Forderung, die Versicherten über die “tatsächlichen Inhalte der E-PA sowie über ihre Rechte und Befugnisse zu informieren – und zwar wahrheitsgemäß.”
Brüssel im Blick
Auch bezweifelt Steiner, dass die vierwöchige Testphase in den Modellregionen Hamburg und Franken ausreicht, “um das Zusammenspiel von unterschiedlichen elektronischen Patientenakten der Krankenkassen mit über 100 Praxisverwaltungssystemen zu testen”.
KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister warnte am Ende seiner Rede auch vor Eingriffen aus Brüssel und Straßburg. Immer häufiger würden dort Entscheidungen getroffen, die in das ärztliche Handeln in Deutschland eingreifen. Die europaweite Angleichung und Vereinheitlichung auch im Bereich Gesundheit werde mittlerweile offen propagiert. Diese Entwicklung würde die KBV aufmerksam beobachten.