Forum PolitikGesunder Zweifel

Darf ein Arzt zweifeln? Er sollte es sogar! Nur wer sich und geltende Standards immer wieder hinterfragt und Zweifel konstruktiv nutzt, kommt zur besten Lösung für seine Patienten.

Tiefe Schnittwunden, eine hartnäckige Erkältung oder stechende Herzschmerzen: Patienten kommen mit den verschiedensten Beschwerden zu ihrem Hausarzt. Egal ob akuter Notfall oder chronisches Gesundheitsproblem – jede Situation richtig einzu-ordnen und im Sinne des Hilfesuchenden bestmögliche Entscheidungen zu treffen, ist die große Herausforderung für den Allgemeinmediziner. Da kann man schon mal ins Zweifeln geraten.

Besonders häufig passiert das, wenn Patienten über Beschwerden mit dem Bauch oder Herzen klagen, fanden Magdalena Wübken et al [1] in einer Umfrage unter 228 Hausärzten heraus – für 58 Prozent der Teilnehmer gehört Unsicherheit generell zum täglichen Praxisalltag. Als Gründe dafür nannten die Befragten die noch nicht volle Entwicklung des Krankheitsbilds (32 Prozent), gefolgt von Unsicherheit bei definierten Krankheits-bildern (27,2 Prozent), zu wenig Zeit (26,5 Prozent) und eine nicht schlüssige Symptompräsentation (25 Prozent). Stellt sich die Frage: Wie lassen sich solche Zweifel konstruktiv nutzen?

Gute Kommunikation ist die Basis

Erst einmal gilt es, keine voreiligen Entscheidungen zu fällen und sich mit dem Patienten auszutauschen – indem man aufmerksam zuhört, sich in ihn einfühlt, nachfragt und die geschilderten Beschwerden auf mögliche organische und psychische Ursachen hin abklopft sowie in Zusammenhang mit der individuellen Krankheitsgeschichte und den Lebensumständen bringt. Viele Patienten haben sich heutzutage im Vorfeld des Arztbesuches auch schon im Internet informiert und bringen ihre ganz eigenen Vorstellungen und Diagnose-Ideen mit. Das kann Fluch und Segen zugleich sein.

Im Zweifel sollte man als Arzt die Vertrauenswürdigkeit von Quellen ansprechen und zum Beispiel auf empfehlenswerte Angebote hinweisen wie www.gesundheitsinformation.de vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) oder die Patientenleitlinien auf www.patientenleitlinien.de oder www.awmf.org.

Es muss erklärt werden, welche Behandlungen möglich wären, was das konkret für den Betroffenen bedeutet und wie es um die Art und Wahrscheinlichkeit von Risiken im Verhältnis zu Heilungschancen steht. Nur so kann der Patient auf Augenhöhe mitreden.

Gemeinsam die Lösung finden

Ziel ist es, damit die Grundlage für die gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient zu schaffen, wie sie heute sowohl Mediziner und Patientenvertreter als auch die Politik befürworten, so der Soziologe PD Dr. Jochen Ernst aus Leipzig. Er wertete die Fachliteratur von 2002 bis 2012 zum Thema „Shared Decision Making“ aus und zog als Fazit, dass nach der Mehrzahl der Studien über 50 Prozent der Patienten an medizinischen Entscheidungen beteiligt werden wollen, teils aber auch nur 16 Prozent der Befragten [2].

Wie stark der Wunsch nach Teilhabe ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab wie der Art und Schwere der Krankheit, kulturellen Einflüssen oder dem Alter des Betroffenen. Viele Studien ließen dabei den Schluss zu, dass jüngere Patienten und solche mit höherem Bildungsgrad sowie ökonomischem Status und Betroffene, die sich schon selbstständig über ihr Problem informiert haben, eher aktiv mitentscheiden wollen.

Über Einflüsse auf die Therapiewahl oder den Behandlungserfolg lässt sich dagegen noch nichts absehen. Die Datenlage ist bislang schlicht noch zu dünn. Allerdings scheinen Patienten, die in die Therapieentscheidung einbezogen werden, emotional und psychosozial stabiler zu sein und den Verlauf ihrer Behandlung realistischer einzuschätzen. Wohl auch, weil sie sich weniger hilflos und ausgeliefert fühlen – und die gestärkte Selbstwirksamkeitsempfindung ihre Selbstheilungskräfte mobilisiert.

Interne und externe Evidenz berücksichtigen

Neben ihrer Erfahrung und Intuition können Ärzte heute die besten Behandlungs-ergebnisse aus der aktuellen medizinischen Forschung zurate ziehen. Wobei die evidenzbasierte Medizin die Entscheidungsfreiheit nicht einschränken, sondern erweitern soll. Schließlich existiert in der Behandlung vieler Leiden nun einmal kein Königsweg. Leitlinien der Fachgesellschaften etwa dürfen nicht als unumstößliche Standards missverstanden und stur eingehalten werden. Sie sind als Hilfestellung gedacht, deren Anwendung auf den Einzelfall hin geprüft werden muss.

Meist gibt es mehrere Optionen mit unterschiedlichen Nutzen und Risiken, ohne dass eindeutig entschieden werden kann, was für den Patienten das Beste ist. Oft ist es nötig, Therapieempfehlungen zu hinterfragen, weil der Betroffene zum Beispiel nicht auf die Probanden der Studie eines Medikaments passt. Umso wichtiger bleibt es, im Zweifelsfall Ein- und Ausschlusskriterien von Untersuchungen zu beachten, die Ergebnisse auf den Patienten (zum Beispiel sein Alter, Begleiterkrankungen, seine Vorstellungen von Lebensqualität) hin abzugleichen und auf methodische Schwächen oder dahinterstehende Interessen zu prüfen.

Abwarten als Option

Gerade Hausärzte müssen oft beurteilen: Warte ich ab oder ist eine schnelle Reaktion nötig? Welche Tests und Eingriffe sind eine nutzlose Belastung oder Überbehandlung und schaden dem Patienten mehr als sie nutzen? In einer Studie verglichen van Bokhoven et al. [3] die beiden Strategien "Anordnen von Tests" und "abwartendes Offenlassen" in Bezug auf die Zufriedenheit und Besorgnis von 498 Patienten. Es zeigte sich, dass diese dann mit dem Arztbesuch zufrieden waren, wenn sie sich ernst genommen fühlten, die Bedrohlichkeit ihres Anliegens einschätzen konnten und der behandelnde Mediziner die diagnostische Situation nachvollziehbar mit ihnen besprach.

Nicht jede Therapie ist nötig

Die Krux: Eine medizinische Option bewusst zu unterlassen, geht häufig mit mehr Unsi-cherheit und Anstrengung einher als „sicherheitshalber etwas zu tun“. Wer am Sinn einer Maßnahme zweifelt, sollte daher die Gründe genau erläutern, damit der Patient sie nachvollziehen kann und er nicht den Eindruck bekommt, ihm werde etwas vorenthalten. Manchmal ist weniger einfach mehr, insbesondere bei der gesundheitlichen Versorgung.

Um darauf aufmerksam zu machen, veröffentlichte die amerikanische Mediziner-Initiative „Choosing Wisely“ Listen von ärztlichen Leistungen, die sich als wirkungslos oder sogar schädlich für Patienten erwiesen. Diagnose- und Therapiemethoden, die Ärzte auch in Deutschland nach dem Stand der Wissenschaft besonders hinterfragen sollten, erarbeitet gerade die fast gleichnamige Initiative „Gemeinsam klug entscheiden“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften.

Ein Hinweis zielt beispielsweise darauf ab, dass Ärzte bei Rückenschmerzen ohne Begleiterscheinungen kein MRT anordnen sollten – ein anderer auf den unnötigen Einsatz von Antibiotika bei Erkältungen. Ebenso identifiziert werden soll, welche Leistungen zu selten in Anspruch genommen und stärker unterstützt werden sollten (wie etwa ausführliche Gespräche). Schließlich ist das Ziel jedes (Haus-)Arztes das gleiche wie das seiner Patienten: bestmögliche Hilfe bei jedem Gesundheitsproblem – egal, ob Schnittwunde, Erkältung oder Herzschmerzen.

Wer reflektiert, reduziert das Risiko für Fehlversorgung

Interview mit Prof. Antonius Schneider, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der TU München am Klinikum rechts der Isar

Darf ein Hausarzt zweifeln?

Prof. Antonius Schneider: Ein gesundes Maß an Zweifeln gehört zum Beruf. Jeder Arzt muss akzeptieren, dass es in der Praxis eine gewisse Unsicherheit gibt, die systemimmanent ist. Nur wer sich das klar macht, kann sie konstruktiv für ein gutes Arzt-Patienten-Gespräch nutzen. Und wer seine diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen kontinuierlich reflektiert, reduziert das Risiko für Über-, Unter- und Fehlversorgung. Das ist gerade bei einem Generalisten wie dem Hausarzt wichtig, zu dem Patienten mit den verschiedensten Beschwerden kommen.

Hier gilt es, die Balance zu halten, also den abwendbar gefährlichen Verlauf rechtzeitig zu erkennen und gleichzeitig dem Abwartenden Offenlassen gerecht zu werden, um den Patienten vor Überdiagnostik zu schützen. So ist es beispielsweise nicht sinnvoll, bei jedem Kopfschmerz gleich ein MRT zum Ausschluss eines Tumors durchzuführen.

Andererseits wäre es in extrem wenigen Fällen genau die richtige Entscheidung. Es kommt auch auf den Kontext an: Ist ein Patient eigentlich kein Kopfschmerztyp und klagt auch über Sehstörungen, wird man ihn doch eher zur Abklärung zum Neurologen schicken. Fakt ist: Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit in der Medizin. Es geht immer um Wahrscheinlichkeiten.

Wie kann ein Hausarzt klug mit seinen Zweifeln oder der Unsicherheit umgehen?

Prof. Antonius Schneider: Die Herausforderung für den Hausarzt ist es, sich im Spannungsfeld zwischen systemimmanenter Unsicherheit und maximaler Sicherheit zu bewegen. Als hilfreiche Strategien haben sich dabei die Orientierung an der evidenzbasierten Medizin und zum Beispiel den Leitlinien, eine abgestufte Diagnostik und eine gute, vertrauensvolle Kommunikation sowie die aktive Einbeziehung des Patienten in die Entscheidungsfindung bewährt.

Darf ein Arzt dem Patienten gegenüber Unsicherheit äußern?

Prof. Antonius Schneider: Das kommt immer auf den Arzt und den Patienten an. Im Sinne einer ehrlichen transparenten Kommunikation und einer modernen gemeinsamen Entscheidungsfindung (Shared Decision Making) ist es meiner Meinung nach als Stärke des Arztes zu werten, die bestehende Unsicherheit gemeinsam mit dem Patienten zu besprechen. Hierbei muss er dem Patienten aber natürlich deutlich machen, dass er ihm in allen Fragen und Problemen zur Seite steht.

Mit wem könnte sich ein Hausarzt fachlich beraten?

Prof. Antonius Schneider: Der Austausch mit Kollegen hilft sicherlich dabei, mit Unsicherheit und Zweifeln im hausärztlichen Alltag entspannter umgehen zu können. Denkbar wären auch Gespräche und Diskussionen im medizinischen Qualitätszirkel.

Quellen

    1. Magdalena Wübken, Markus Bühner, Niklas Barth, Antonius Schneider: Welche Aspekte tragen in der täglichen Routine zur diagnostischen Unsicherheit bei? Ergebnisse einer hausärztlichen Befragung. Deutscher Ärzte-Verlag | ZFA | Z Allg Med | 2015; 00 (10). DOI 10.3238/zfa.2015.;
    1. J. Ernst et al.: Beteiligung von Patienten an medizinischen Entscheidungen – ein Überblick zu Patientenpräferenzen und Einflussfaktoren. Das Gesundheitswesen 2014; 26 (4), 187-192, Georg Thieme Verlag;
    1. van Bokhoven MA, Koch H, van der Weijden T, Grol RP, Kester AD, Rinkens PE, et al. Influence of watchful waiting on satisfaction and anxiety among patients seeking care for unexplained complaints. Ann Fam Med 2009; 7: 112-120.DOI 10.1370/afm.958
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