Experteninterview“Motivieren Sie die Betroffenen zur richtigen Therapie”

Aktuell erhalten nur wenige Zwangserkrankte eine leitliniengerechte Behandlung. Wie können Hausärztinnen und Hausärzte zu einer besseren Versorgung beitragen? Antworten gibt Prof. Ulrich Voderholzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.

Zwangsstörungen werden oft verheimlicht – aus Scham, aber auch aus Angst vor der Therapie.

Zwangsstörungen sind die vierthäufigste psychische Erkrankung; der Prozentsatz derer, die diagnostiziert werden und eine Therapie erhalten, ist aber sehr gering. Wann sollten Hausärztinnen und Hausärzte an eine Zwangserkrankung denken?

Hauptsymptome von Zwangsstörungen sind Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, auch Zwangsrituale genannt, die von den Betroffenen in der Regel selbst als unsinnig oder zumindest übertrieben erkannt werden.

Zwangsstörungen werden allerdings besonders oft verheimlicht. Die Gründe sind Scham für die Symptome, aber auch Angst vor der Therapie – diese bedeutet schließlich, dass Verhaltensmuster aufgegeben werden müssen, die subjektiv eine gewisse Sicherheit im Alltag vermitteln.

Daher ist es oft sehr schwierig, eine Zwangsstörung zu erkennen. Daran denken sollten Hausärzte vor allem bei Menschen, die psychisch schwer belastet sind oder psychische Auffälligkeiten zeigen, zum Beispiel Depressivität oder eine andere hohe Anspannung.

Oder auch dann, wenn sie schwere Hautschäden sehen, wenn die Hände zum Beispiel knallrot und aufgescheuert sind. Neben dem Waschekzem, das sehr häufig ist, gibt es etwa auch Zwangsstörungen, die mit einem Aufkratzen der Haut einhergehen.

Besonders häufig sind Zwangsstörungen bei jungen Erwachsenen – die Erkrankung beginnt oft zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr.

Welche Screeningverfahren empfehlen Sie für Zwangserkrankungen?

Hilfreich und zeitökonomisch ist es, den Patienten fünf zentrale Fragen zu stellen (siehe Kasten unten).

Der Verdacht auf eine Zwangsstörung besteht, wenn nur eine der Fragen klar positiv beantwortet wird und zudem eine Beeinträchtigung vorliegt – das kann ein Leidensdruck sein, aber auch Probleme in der Partnerschaft oder eine zeitliche Beeinträchtigung, wenn die Zwänge sehr viel Zeit kosten.

Gute standardisierte Fragebogeninstrumente, um den Schweregrad und die Ausprägung einer Zwangsstörung zu bestimmen, sind Y-BOCS und OCI-R – dies fällt dann aber eher in den Aufgabenbereich der Psychiater.

Sie sagten, dass sich viele Betroffene vor der Therapie fürchten. Wie können Hausärzte sie dennoch motivieren?

Zwänge sind sehr hartnäckig und es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sie von allein aufhören. Das sollte man den Patienten erklären und sie auch auf die negativen Folgen der Zwänge hinweisen. So ist eine Zwangserkrankung oft sehr belastend für die Partnerschaft, es kommt deswegen häufig zu Trennungen.

Auch im Beruf kann es Probleme geben, weil Menschen mit Zwängen oft wesentlich langsamer sind. Die meisten Betroffenen sind durch die Zwänge sehr gestresst und verpassen viele schönen Dinge im Leben; manche trinken auch vermehrt Alkohol, um sich zu beruhigen.

Dabei gibt es wirksame Therapien – darauf sollten Hausärzte die Patienten aufmerksam machen und sie unbedingt dazu ermuntern, diese auch in Anspruch zu nehmen.

Der Goldstandard für die Behandlung von Zwängen ist die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement. Warum erhalten so wenige Betroffene diese Therapie der ersten Wahl?

Hier gibt es eine große Schwachstelle in der Versorgung, denn auch viele Therapeuten, die kognitive Verhaltenstherapie anbieten, führen keine Expositionen durch.

Unter Exposition verstehen wir, dass der Therapeut mit dem Patienten Übungen durchführt, um dessen Ängste und Zwänge zu bewältigen – und das nicht nur in seiner Praxis, sondern auch außerhalb davon, etwa in der Wohnung des Patienten.

Viele Therapeuten sind darauf nicht spezialisiert, zudem bestehen organisatorische und finanzielle Hemmnisse. Das Gespräch im Behandlungszimmer ist jedoch nur die Theorie, das praktische Üben ist viel wirkungsvoller.

Deshalb ist es wichtig, dass Hausärzte die Patienten zur richtigen Therapie motivieren – wir empfehlen Verhaltenstherapeuten, die tatsächlich therapeutisch begleitete Expositionen, bei Bedarf auch außerhalb der Therapieräume, anbieten.

Oft dauert es sehr lange, bis Betroffene einen solchen Therapieplatz erhalten – wie können Hausärztinnen und Hausärzte in der Zwischenzeit unterstützen?

Es gibt gute Internetseiten oder Bücher, die Hausärzte ihren Patienten empfehlen können (siehe Kasten unten); wir werden in diesem Jahr außerdem eine Patientenleitlinie für Menschen mit Zwangserkrankungen entwickeln.

Für viele Betroffene ist es entlastend, zu verstehen, was eine Zwangserkrankung ist und dass es noch viele andere Betroffene gibt. Ein weiterer einfacher Tipp: Körperliches Training hat bei allen Zwangs-, Angst- und depressiven Erkrankungen eine positive Funktion. Menschen mit Zwangserkrankungen sollten Sport daher nicht meiden.

Ist eine stationäre Behandlung eine Alternative, wenn Betroffene keinen ambulanten Therapeuten finden?

Wenn eine ambulante Psychotherapie nicht verfügbar ist oder nicht ausreicht, kann eine stationäre Behandlung eine gute Lösung sein. Hier ist es aber sehr wichtig, dass es sich um eine Klinik handelt, die auf die Behandlung von Zwangserkrankungen spezialisiert ist.

Hausärzte können sich bei der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen informieren, welche Kliniken es in ihrer Region gibt.

Bei Zwangserkrankungen kommen auch Medikamente zum Einsatz, vor allem SSRI. Wann ist eine medikamentöse Behandlung sinnvoll?

SSRI sind bei Zwangserkrankungen mäßig wirksam, aber nicht die erste Wahl. Man sollte sie eigentlich nur dann vorschlagen, wenn die Psychotherapie nicht wirkt.

Leider ist der häufigste Grund für die Verordnung von Medikamenten, dass die Patienten keinen Therapeuten finden – das finde ich persönlich traurig.

Gibt man SSRI, ist es wichtig, die Wirkung nach drei Monaten zu prüfen und sie bei fehlender positiver Wirkung auch wieder abzusetzen. Auch sollte man unbedingt dazu raten, zu einem späteren Zeitpunkt trotzdem eine Psychotherapie mit Exposition in Anspruch zu nehmen, damit die Medikamente nicht dauerhaft eingenommen werden.

SSRI machen zwar nicht abhängig, können bei längerfristiger Einnahme aber zu Nebenwirkungen wie sexuellen Funktionsstörungen, vermehrtem Schwitzen und Gewichtszunahme führen. Außerdem kann es nach jahrelanger Einnahme beim Absetzen zu Rebound-Effekten kommen.

Haben Sie weitere Tipps für den Umgang mit Betroffenen?

Wenn jemand eine Zwangsstörung hat, erscheint das Außenstehenden oft ziemlich lächerlich. Es ist jedoch wichtig, die Betroffenen ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass für sie gewisse Dinge schwierig sind. Die Patienten wissen ja selbst, dass ihr Verhalten übertrieben ist.

Gleichzeitig sollte man ihnen keine Rückversicherungen geben. Viele Menschen mit Zwangsstörungen holen sich in ihrem Umfeld Rückversicherungen, unter anderem auch bei Ärzten. Zum Beispiel: “Denken Sie, dass ich mich mit HIV infiziert haben könnte?”. Oder sie verlangen bei hypochondrischen Befürchtungen immer wieder die gleichen Untersuchungen.

Hier sollte man ihnen erklären, dass man über ein normales Maß hinaus keine Rückversicherungen geben möchte, weil das zur Aufrechterhaltung der Erkrankung beiträgt.

Gilt das auch für Angehörige?

Auch die Angehörigen sollen zwar die Betroffenen unterstützen, nicht aber ihre Zwänge. Menschen mit Zwangserkrankungen neigen dazu, ihre Angehörigen in die Zwangshandlungen mit einzubeziehen – indem sie zum Beispiel fordern, dass die Angehörigen ebenfalls bestimmte Wasch- oder Reinigungsrituale durchführen oder niemanden mehr in die gemeinsame Wohnung mitbringen.

Viele geben dann dem Druck nach und die ganze Familie lässt sich vom Zwang bestimmen. Es ist jedoch wichtig, dies zu unterlassen und auch keine Rückversicherungen zu geben. Natürlich ist das leichter gesagt als getan – Angehörige brauchen deshalb Beratung und manchmal auch therapeutische Unterstützung.

Potenzielle Interessenkonflikte: Prof. Ulrich Voderholzer erklärt, dass bei ihm in Bezug auf dieses Interview keine Interessenkonflikte bestehen.

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