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practica 2023Wenn Essen zur Qual wird

Patientinnen und Patienten mit Essstörungen haben einen hohen Leidensdruck, finden aber ohne professionelle Hilfe meist keinen Ausweg. Was Hausärztinnen und Hausärzte tun können.

Therapieziel ist unter anderem, das Essverhalten zu normalisieren.

Essanfälle, Erbrechen, Hungern, Scham, Ängste: Personen mit Essstörungen leiden je nach Störungsbild oft massiv unter ihrem Essverhalten. Eine gesicherte Behandlungsmotivation zu schaffen ist eine wichtige hausärztliche Aufgabe bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Essstörungen.

Das betonte Hausärztin Kathrine Norrmann aus Walzbachtal bei der practica in Bad Orb. Oft ließen sich Essstörungen der meist jungen Patientinnen und Patienten nur dann erfolgreich behandeln, wenn auch die Eltern in das Behandlungskonzept einbezogen würden.

Als Therapieziele nannte die Hausärztin die Normalisierung des Körpergewichtes, des Essverhaltens sowie die Bewältigung der mit der Erkrankung verbundenen psychischen Probleme, wobei zu Beginn die sachliche Aufklärung über die Erkrankung stehe.

Störung richtig einordnen

Zu den bedeutendsten Essstörungen zählen die Anorexia nervosa, die Bulimia nervosa sowie die Binge-Eating-Störung.

Die Anorexia nervosa ist eine psychische Störung aus dem Bereich der seelisch bedingten Essstörungen; sie kann begleitet sein von Depressionen sowie Angst- und/oder Zwangsstörungen. Nach ICD-10 liegt eine Anorexia nervosa vor, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

  • Körpergewicht mindestens 15 Prozent unterhalb der Norm oder BMI < 17,5 kg/m²
  • Gewichtsverlust ist selbst verursacht
  • Körperschemastörung und überwertige Idee, zu dick zu sein
  • Endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonadenachse
  • Bei Erkrankungsbeginn vor der Pubertät: Störung der pubertären Entwicklung einschließlich des Wachstums, die nach Remission häufig reversibel ist

Bei Kindern und Jugendlichen liegt eine Anorexia nervosa vor, wenn die 10. BMI-Altersperzentile unterschritten ist. Da Kinder und Jugendliche eine bedeutend geringere Fettmasse haben, zeigen sich bei früh auftretender Anorexia gravierende Folgen im Hinblick auf Knochendichte (bleibende Osteoporose), Längenwachstum (verbleiben unterhalb der zu erwartenden Endgröße) und Hirnreifung.

Zu den körperlichen Veränderungen in Folge einer Anorexia nervosa, aber auch einer Bulimie zählen:

  • Störungen der Hunger- und Sättigungsregulierung
  • Störungen des Hormonhaushaltes
  • Wachstumsstörungen
  • Herz- und Kreislaufstörungen
  • Magen- und Darmbeschwerden
  • Schädigung der Knochensubstanz, Haut, Zähne, Haare

Die Anorexia nervosa zeigt sich in Haarausfall, Speicheldrüsenschwellung, einem knöchernen-kalten Händedruck sowie einem greisenhaften, faltigen Gesicht. Die Epidermis kann trocken und schuppig sein, zu beobachten können eine Lanugobehaarung sein, Akrozyanose und Cutis marmorata. Der Wuchs bleibt klein.

Im Labor können sich Erhöhung von Trans-aminasen, Amylase und harnpflichtigen Substanzen zeigen, bedingt durch eine erhöhte Flüssigkeitszufuhr zum Beispiel zur Fälschung des Gewichts, Veränderungen im Lipidstoffwechsel durch die Hormonsynthesestörung, eine Erniedrigung von Gesamteiweiß und Albumin, das so genannte Hungerödem, sowie Veränderungen im Blutbild (Leukopenie, Anämie und Thrombozytopenie).

Erhöhtes Suizidrisiko

Eine Anorexia nervosa gilt nach fünf Jahren als chronifiziert. Bei einer Krankheitsdauer über 12 Jahre ist eine Besserung nicht mehr wahrscheinlich. In bis zu 50 Prozent der Fälle tritt eine Heilung der Kernsymptomatik auf, bei 20 bis 25 Prozent eine Besserung.

Die mittlere Häufigkeit bei Frauen zwischen 14 und 20 Jahren liegt zwischen 0,2-0,8 Prozent. Eine Chronifizierung zeigt sich in 25 Prozent der Fälle. Mit 5 Prozent nach 10 Jahren ist die Mortalitätsrate hoch, sie liegt bei 16 Prozent nach 20 Jahren und ist damit um das 10-fache erhöht gegenüber der gleichaltrigen Normalbevölkerung.

Wichtig zu wissen: Das Suizidrisiko bei Patientinnen mit Anorexia nervosa ist um ein Vielfaches erhöht gegenüber der gleichaltrigen Normalbevölkerung.

Die Bulimia nervosa ist gekennzeichnet von ständiger Beschäftigung mit Essen und gehäuft auftretenden Heißhungerattacken. Die Patientinnen und Patienten konsumieren in kurzer Zeit enorme Mengen an Nahrungsmitteln, worauf unmittelbar der Versuch folgt, der Gewichtszunahme gegenzusteuern.

Mögliche ergriffene Maßnahmen sind Erbrechen, rigoroses Fasten, Laxanzien- und/oder Diuretika-Abusus. Betroffene leiden unter extremer Angst, adipös zu werden. Nicht selten geht eine Anorexie in eine Bulimie über.

Die Prävalenz der Bulimia nervosa ist mit zwei Prozent deutlich höher als bei der Anorexia, wobei Männer nur in 5-10 Prozent der Fälle betroffen sind. Etwa 44 Prozent der Erkrankten werden geheilt, circa 50 Prozent sind nach fünf Jahren symptomfrei.

Eine Besserung zeigt sich bei circa 28 Prozent der Betroffenen. Die restlichen 20 Prozent erfüllen weiter alle Kriterien der Störung. Eine Chronifizierung entsteht bei 11 Prozent, ein Übergang zu anderen Essstörungen liegt bei 17 Prozent, allerdings sind Übergänge zur Anorexie eher selten.

Wichtig zu wissen: Die Sterblichkeitsrate ist gering (0,3 Prozent), wird aber möglicherweise unterschätzt.

Die Binge-Eating-Störung ist gekennzeichnet durch Episoden von Essanfällen. Innerhalb eines begrenzten Zeitraums wird eine übergroße Menge an Nahrungsmitteln konsumiert, wobei das Gefühl eines Kontrollverlusts über das Essen entsteht. Die Essanfälle treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf:

  • Wesentlich schnelleres Essen als normal
  • Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl
  • Essen von großen Nahrungsmengen ohne körperliches Hungergefühl
  • Allein essen aufgrund von Schamgefühlen wegen der Menge
  • Im Nachhinein Gefühle von Selbstekel, Deprimiertheit oder starker Schuld
  • Hoher Leidensdruck
  • Episoden an mindestens zwei Tagen in der Woche über einen Zeitraum von sechs Monaten

Psychotherapie ist Mittel der Wahl

Die störungsspezifische Psychotherapie ist die Therapie der Wahl bei Anorexia nervosa. Einzig bei der Bulimia nervosa ist eine flankierende Medikation mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) zugelassen. Folgende Kriterien sprechen für eine stationäre Therapie bei allen Patientinnen und Patienten mit Essstörungen:

  • unzureichende Veränderung in ambulanter Behandlung,
  • Scheitern einer ambulanten oder tagesklinischen Behandlung,
  • Fehlen ausreichender ambulanter Behandlungsmöglichkeiten am Wohnort der Patienten,
  • ausgeprägte psychische und somatische Komorbidität (z. B. Selbstverletzungen, Diabetes mellitus Typ II), die eine engmaschige ärztliche Kontrolle notwendig macht,
  • Krankheitsschwere (geringe Motivation, ausgeprägte Habituation der Symptomatik, chaotisches Essverhalten)
  • erhebliche Konflikte im sozialen und familiären Umfeld,
  • Suizidgefahr.

Fazit

Die Behandlungsmotivation sollte im Fokus der Erstgespräche stehen und die ausführliche, sachliche Information über die Essstörung einschließlich ihrer Risiken beinhalten.

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