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Pubertas praecoxPandemie-Effekt? Pubertät setzt immer früher ein

Kinder kommen heutzutage deutlich früher als noch vor Jahrzehnten in die Pubertät, in der Pandemie stieg die Zahl verfrüht pubertierender Mädchen und Jungen noch einmal deutlich. Woran liegt das?

20 bis 30 Prozent mehr Fälle verfrühter Pubertät wurden während der Pandemie erfasst.

Berlin. Über eine im Mittel immer früher einsetzende Pubertät berichten Mediziner schon seit einigen Jahrzehnten. Die Corona-Pandemie hat diesen Effekt noch deutlich verstärkt.

“Es wurden 20 bis 30 Prozent mehr Fälle verfrühter Pubertät erfasst”, sagt Professorin Bettina Gohlke von der Universitätskinderklinik Bonn. Das Phänomen sei weltweit aufgefallen, entsprechende Daten gebe es aus Europa ebenso wie aus den USA und China.

Als  Pubertas praecox wird die Entwicklung äußerer Sexualmerkmale bei Jungen vor dem vollendeten 9. und bei Mädchen vor dem vollendeten 8. Lebensjahr bezeichnet.

Mehr gemeinsame Zeit während Corona

Bei den Mädchen entwickelt sich dann unter anderem die Brust – eine Vermutung zum Corona-Effekt war darum, dass die frühere Entwicklung den Eltern eher auffiel, weil sie im Zuge von Schulschließungen und Homeoffice mehr Zeit mit ihren Kindern verbrachten.

Möglich sei auch ein Zusammenhang mit höherer psychosozialer Belastung, erklärt Kinderendokrinologin Gohlke. Frühere Studien hätten ergeben, dass Kinder in solchen Situationen körperlich früher reifen.

Diskutiert werde zudem ein Gewichtseffekt: Viele Kinder aßen in der Pandemie mehr beziehungsweise bewegten sich merklich weniger – und Übergewicht gilt als einer der wichtigsten Faktoren für eine früh einsetzende Pubertät.

“Aber auch, wenn das Gewicht herausgerechnet wurde, blieb ein Plus an Fällen von Pubertas praecox”, so Gohlke. “Vermutlich handelt es sich um einen multifaktoriellen Effekt.” Unklar sei bisher, ob er sich mit dem Abklingen der Pandemie wieder verflüchtige.

Pubertät beginnt früher und dauert insgesamt länger

Daten eines Forschungsteams um Gohlke zufolge ist das durchschnittliche Alter bei Pubertätsbeginn bei Mädchen seit den 70er-Jahren um etwa drei Monate pro Jahrzehnt gesunken. Bei Jungen sei die Entwicklung ähnlich. Das Alter am Pubertätsende hingegen verschob sich in den vergangenen 50 Jahren nicht – die Pubertät dauert also im Mittel länger als früher.

Kaum verändert hat sich auch das durchschnittliche Alter bei der ersten Regelblutung. Prinzipiell sei vor allem genetisch festgelegt, wann die Hormonausschüttung und damit die Pubertätsmaschinerie anspringe, erklärt der Hamburger Endokrinologe Professor Stephan Petersenn.

Einfluss haben aber auch Faktoren wie anhaltende psychische Belastung und Ernährung. Übergewicht gilt als maßgeblich für die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte: Im Fettgewebe entstehe dann vermehrt der Botenstoff Leptin, der die Pubertät vorantreibe, so Petersenn, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE).

Auch das Gewicht spielt eine Rolle

Je mehr ein Kind wiegt, desto früher entwickelt es sich also zum Erwachsenen. Das Einsetzen der Pubertät hänge also immer auch mit dem Lebensstandard in der Gesellschaft zusammen, so Petersenn. Es sei gut vorstellbar, dass es auch in der Vergangenheit immer wieder deutliche Schwankungen beim Startalter gegeben habe.

Aktuell treffe eine verfrühte Pubertät Kinder aus sozial schwächeren Familien anteilig häufiger, weil sie öfter übergewichtig seien, erklärt Professor Günter Stalla, ehemaliger Präsident der DGE. “Gesundheit hängt von sozialem Status und Bildung ab, das zeigt sich auch hier.”

Einfluss hat nach Annahme vieler Experten neben Übergewicht auch, dass Kinder heutzutage einem ganzen Cocktail hormonell wirkender Substanzen ausgesetzt sind. “Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Einfluss hat”, betont Gohlke.

Auch Stalla und Petersenn sehen klare Anzeichen dafür. “Das Problem ist der Mangel an Studien”, erklärt Gohlke. Aus Tierversuchen ließen sich nur bedingt Rückschlüsse ziehen, klinische Studien am Menschen seien in dem Bereich nicht möglich.

Welche Folgen hat Pubertas praecox?

Was bedeutet eine nach den aktuellen medizinischen Leitlinien zu früh einsetzende Pubertät für ein Kind? “Die einsetzende Pubertät ist ein Wachstumsbeschleuniger”, erklärt Stalla. Vorzeitig pubertierende Kinder schießen also zunächst rascher in die Höhe – doch es gibt bei ihnen einen gegenläufigen Prozess, der zur Folge hat, dass sie im Mittel letztlich kleiner bleiben als später in die Pubertät startende.

Die Sexualhormone, die das Wachstum zunächst beschleunigen, sorgen auch dafür, dass es verfrüht endet, indem die Wachstumsfugen geschlossen werden.  Neben solchen körperlichen Folgen kann es psychische geben, wie Petersenn sagt. Und das nicht nur deshalb, weil Kinder sich zum Beispiel für Brustwachstum oder Behaarung schämten: Mit einsetzender Pubertät veränderten sich auch die Art zu denken und die Gefühlswelt, was zu Problemen im Freundeskreis führen könne, erklärt Petersenn. “Man reift früher zu erwachsenem Denken heran.”

Diskutiert werden unter Experten auch mögliche Langzeitfolgen wie ein höheres Risiko für bestimmte Krankheiten – gesicherte Erkenntnisse fehlen aber. “Richtig gute Daten zu Langzeitfolgen gibt es nicht”, sagt Gohlke.

Stoppen lässt sich der verfrühte Pubertätsstart – durch Medikamente, die die Produktion von Sexualhormonen stoppen. Sie müssen alle drei Monate per Injektion verabreicht werden.

Bei Mädchen, die mit sieben bis siebeneinhalb Jahren in die Pubertät kommen, entschieden sich das Kind beziehungsweise die Eltern in etwa der Hälfte der Fälle gegen eine solche Therapie, ist Gohlkes Erfahrung. Manche Eltern oder auch das Kind selbst stresse die Diagnose hingegen sehr. Für das Größenwachstum spiele die Therapie keine Rolle mehr, erklärt die Medizinerin. Dafür müsse sie früher, vor dem sechsten Lebensjahr beginnen. Solche Fälle seien aber selten.

dpa

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