Aktualisierte Leitlinie zur HarninkontinenzHandlungsempfehlungen für inkontinente Senioren

Etwa 40 Prozent der über 70-Jährigen in Deutschland verlieren ungewollt Urin. Um den behandelnden Ärzten klare Handlungsempfehlungen zu geben, hat die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie eine aktualisierte Leitlinie zur Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten veröffentlicht.

40% der über 70-Jährigen leiden Schätzungen zufolge an Inkontinenz

Viele ältere Menschen sprechen nicht spontan über Inkontinenzbeschwerden. Daher empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG), nach Harninkontinenz zu “screenen”. Hierbei helfen standardisierte Fragebögen. Diese können auch Hinweise auf die Inkontinenzform geben, etwa der “Three Incontinence Question Questionnaire” (3IQ, www.hausarzt.link/2Ng3f).

Zudem sei es wichtig, die persönliche Lebenssituation und den individuellen Leidensdruck der Patienten zu erfassen, so die DGG. Auch hierfür seien standardisierte Fragebögen geeignet, zum Beispiel der King’s Health Questionnaire (www.hausarzt.link/RKS6r). Laut DGG sind Assessment-Instrumente bei geriatrischen Patienten besonders wichtig, weil eine weiterführende Diagnostik oft nicht sinnvoll oder gewünscht ist.

Restharnmessung nicht vergessen

Neben der allgemeinen klinischen Untersuchung rät die DGG, die mentale und körperliche Leistungsfähigkeit der Patienten einzuschätzen, um zu prüfen, in welchem Umfang sie physio- oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen umsetzen können. Außerdem umfasst die Basisdiagnostik eine Urinuntersuchung, das Miktionstagebuch (s. Kasten) und die Restharnmessung.

Der DGG zufolge besteht bei etwa einem Drittel der älteren Patienten eine eingeschränkte Kontraktionsfähigkeit des Detrusors, dies kann zu relevantem Restharn führen und in der Folge die Miktionsfrequenz und das Infektionsrisiko erhöhen. Vor allem vor und während einer anticholinergen Medikation sollte laut DGG eine Restharnbestimmung erfolgen.

Eine erweiterte Diagnostik mit Sono, Labor, Röntgen, Urethrozystoskopie und urodynamischer Untersuchung ist gemäß Leitlinie nötig, wenn eine nicht eindeutig klassifizierbare Inkontinenz, eine komplexe Vorgeschichte (zum Beispiel neurogene Blasenentleerungsstörung), Therapieresistenz oder eine Rezidivinkontinenz vorliegen – vorausgesetzt, die diagnostische Abklärung hat therapeutische Konsequenz. Wichtig ist sie dann besonders vor einer operativen Behandlung.

Medikamente mit Bedacht einsetzen

Ein Schwerpunkt der Leitlinie sind die Nebenwirkungen breit eingesetzter Medikamente in der hausärztlichen Versorgung. So zählt zu den potenziellen Nebenwirkungen von Anticholinergika unter anderem eine beeinträchtigte Kognition mit demenzieller Entwicklung, bei Mirabegron besteht die Gefahr der Auslösung oder Verschlimmerung einer arteriellen Hypertonie, zu Duloxetin liegen keine Daten bei multimorbiden, hochbetagten Patienten vor. Laut DGG dürfen Ärzte somit auch klassische Medikamente gegen Inkontinenz bei geriatrischen Patienten nur mit Bedacht einsetzen.

Toilettentraining empfehlen

Die Leitlinie definiert erstmals, dass ein Blasenkatheter zur Inkontinenzbehandlung erst dann einzusetzen ist, wenn alle anderen Therapien nicht anwendbar oder gewünscht sind. Bislang seien Katheter vorschnell gelegt worden, so die DGG. Eine besonders wichtige Behandlungsmethode sei dagegen das Toilettentraining, dem die Autoren ein eigenes Kapitel widmen.

Unter den Sammelbegriff “Toilettentraining” fallen verschiedene Methoden (s. Tab. im PDF). Ihre Domäne beim geriatrischen Patienten ist gemäß Leitlinie die überaktive Blase und die Mischinkontinenz, auch bei Belastungsinkontinenz sind sie eine Interventionsmöglichkeit. Kontraindiziert sind sie bei der Überlauf-inkontinenz und der extraurethralen Inkontinenz.

Effektiv ist das Training laut DGG besonders bei mobilen, kognitiv nicht eingeschränkten geriatrischen Patienten, jedoch sprechen selbst gebrechliche ältere Menschen mit kognitiven oder körperlichen Einschränkungen an. Es kann bei jedem Schweregrad zum Einsatz kommen, wobei die Erfolgsaussichten mit zunehmender Ausprägung sinken. Ein weiterer Vorteil der Methoden: Sie sind frei von Nebenwirkungen. Dafür setzen sie größtenteils die kontinuierliche Unterstützung der pflegenden Angehörigen oder des Pflegepersonals voraus.

Hilfsmittel verordnen

Nicht invasiv und nahezu nebenwirkungsfrei ist auch eine Versorgung mit Vorlagen. Diese und weitere aufsaugende Hilfsmittel sollten gemäß Leitlinie individuell für die einzelnen Patienten ausgesucht werden. Zum Beispiel ist es wichtig, dass sie an den Inkontinenzschweregrad angepasst und gut handhabbar sind.

Für männliche Patienten, die ihre Blase ohne signifikante Restharnmengen entleeren, sind Kondomurinale eine Alternative. Neben einer relevanten Blasenentleerungsstörung ist laut DGG eine ausgeprägten Vorhautverengung eine Kontraindikation; Voraussetzungen sind eine gesunde Penishaut und eine ausreichende Penisgröße sowie manuelles Geschick oder die Unterstützung einer Pflegeperson. In Einzelfällen kann es beim Tragen dieses Hilfsmittels zu ernsten Komplikationen kommen, meist bei unsachgemäßer Handhabung – eine individuelle Beratung, Schulung und Anpassung durch eine Fachkraft wertet die DGG als günstig.

Daneben stehen auch körperferne Hilfsmittel wie Urinflaschen und Betteinlagen zur Verfügung. Indiziert sind Hilfsmittel laut Leitlinie, wenn andere Therapieformen versagen oder der Patient sie ablehnt. Zudem können sie andere Behandlungen als passagere Maßnahme unterstützen. Auch hält es die DGG für sinnvoll, die Umgebung und die Kleidung in Absprache mit Patienten und Angehörigen anzupassen. Zum Teil verordnungsfähig sind Toilettensitzerhöhung, Haltegriffe, Toilettenstuhl und Gehhilfen.

Verhaltensinterventionen bedenken

Die DGG empfiehlt, bei der Inkontinenzbehandlung auch eine eventuell vorhandene Obstipation zu regulieren. Nehmen die Patienten Diuretika ein, sollten diese wenn möglich unter Vermeidung von schnell wirksamen Substanzen in retardierter Form und an das individuelle Miktionsmuster im Tagesverlauf angeglichen verabreicht werden. Bei stark übergewichtigen, eher jüngeren Frauen können Ärzte zudem erwägen, zu einer Gewichtsreduktion zu raten. Die Empfehlung einer Flüssigkeitsrestriktion erachtet die DGG in der Geriatrie wegen der veränderten Verteilungsvolumina und der oft vorhandenen Multimorbidität und Polymedikation als problematisch – eine solche sollte individuell unter engmaschiger Kontrolle ausgesprochen werden.

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