© Anne Bäurle Ultraschallbild: Die Aufnahmen in der Notfallsimulation stammen von Menschen aus dem echten Leben.
Dann eben erst einmal das ABCDE-Schema durchgehen. Die Atemwege sind frei, die Atemfrequenz normal. Sarah misst den Blutdruck: stabil, wenn auch auf schlechtem Niveau. Der neurologische Zustand des Patienten ist nicht ganz einfach einzuschätzen, der Mann gibt immer noch keine Auskunft. “Er hat Blut erbrochen. Ich fordere mal Blutkonserven an,” murmelt Sarah. “Außerdem nehme ich Blut ab, mal sehen, wie die Leberwerte sind.”
Eine Stimme aus dem Hintergrund meldet sich: “Teste doch auch mal auf Hepatitis B und C und häng‘ Flüssigkeit an.” Sarah entnimmt dem Mann Blut und schickt die Proben per Rohrpost an das Labor. Dann öffnet sie eine Schublade, nimmt einen Beutel heraus, tritt zum Patienten und legt die Infusion.
Wie schnell läuft ein EK?
Inzwischen sind die Ergebnisse der Blutuntersuchung da, der Virusnachweis ist negativ. “Aber die Leberwerte sind alle erhöht und seine Blutgerinnung ist ehrlich gesagt richtig schlecht”, resümiert Sarah. “Wahrscheinlich eine Leberzirrhose, vielleicht ist der Mann Alkoholiker?” Dann sind auch die Blutkonserven eingetroffen. “Wie schnell läuft denn ein EK, eine halbe Stunde?” fragt Sarah. Zustimmendes Gemurmel.
Sie hängt das Elektrozytenkonzentrat an und stellt die Durchlaufgeschwindigkeit ein. “Gut, er bekommt Flüssigkeit und ein EK, der Blutdruck ist erst einmal in Ordnung. Dann mache ich jetzt mal einen Ultraschall.” Sie tritt zum Ultraschallgerät, greift den Schallkopf und platziert ihn auf dem Bauch des Patienten. “Aszites” sagt Sarah beim Blick auf das Ultraschallbild. Sie tritt einen Schritt zurück. “Ich würde den Patienten jetzt mit Verdacht auf Leberzirrhose und Ösophagusvarizen stationär aufnehmen und den Fall hier in der Notaufnahme schließen.”
Es sind etwa 15 Minuten vergangen. Sarah dreht sich zum Schreibtisch um, sucht auf dem Bildschirm des PCs und klickt den Button “Schicht beenden” an. Dann nimmt sie die VR-Brille ab und legt die beiden Controller aus den Händen.
Erstes VR-Seminar für Medizinstudierende
Sarah ist Medizinstudentin im 10. Semester an der Universität Würzburg. Neben ihr befinden sich noch sieben weitere Studierende und zwei Tutoren im Simulations-OP der Lehrklinik.
Die angehenden Medizinerinnen und Mediziner absolvieren ein Begleitseminar zum Blockpraktikum Innere Medizin, in dem per virtueller Realität (VR) der Alltag in einer Notaufnahme simuliert wird. Daher auch die VR-Brille und die beiden Controller. Jeder simulierte Notfall wird im Nachgang mit erfahrenen Ärztinnen und Ärzten durchgegangen: Haben die Studierenden Symptome übersehen? Wurde die richtige Behandlung eingeleitet?
“Wie viel hab‘ ich richtig?” fragt Sarah und blickt auf den großen Bildschirm vor sich. “Ösophagusvarizenblutung und hepatische Enzephalopathie aufgrund von dekompensierter ethyltoxischer Leberzirrhose – 80 %” ist darauf zu lesen. “Was hättet ihr denn vielleicht therapeutisch noch machen können?” fragt Ärztin Dr. Miriam Reuter, die an diesem Tag mit den Studierenden die Fälle durchgeht. “Vielleicht ein PPI wie Pantoprazol?” fragt ein Student. “Und ein Antiemetikum, er hat ja erbrochen?”
Als die Universität Würzburg das virtuelle Notfalltraining “STEP-VR” 2020 als Pflichtveranstaltung in den Lehrplan einführte, war es das erste VR-Seminar für Medizinstudierende deutschlandweit.
Das Besondere: Die virtuellen Patienten sind Notfällen aus der realen Welt nachempfunden. Ultraschall-, Röntgenbilder oder CT-Aufnahmen stammen von realen Menschen, die dafür ihr Einverständnis gegeben haben. “Wir haben hier ein repräsentatives Abbild echter Notfallpatienten in Unterfranken”, erklärt Dr. Tobias Mühling, Leiter der Arbeitsgruppe “Virtual Reality-Simulation im Medizinstudium”, der das VR-Seminar in Zusammenarbeit mit dem Start-Up-Unternehmen “ThreeDee” aus München entwickelt hat.
In den vergangenen drei Jahren hat Mühling mit seiner Arbeitsgruppe das VR-Training evaluiert, die Ergebnisse sind in diesem Jahr veröffentlicht worden [1]. “Wir wollten zunächst erst einmal wissen, was die Studierenden grundsätzlich von dem VR-Training halten: Wie ist das Immersionsgefühl, wird die Notfallsituation als real empfunden? Wie ist das Stressempfinden? Macht die VR-Brille Probleme, zum Beispiel in Form einer Motion-Sickness, also leichtem Schwindel und Benommenheit während man sie trägt?” erklärt er.
Die Ergebnisse waren insgesamt positiv – einzig die Patienten wurden anfangs nicht als richtig “echt” empfunden. “Aber die haben sich damals auch tatsächlich noch nicht so viel bewegt, hier haben wir mittlerweile nachgerüstet”, berichtet Mühling. “Positiv war auch, dass die Studierenden den subjektiven Lernerfolg als hoch empfunden haben.”
“Das Wissen hat sich eingebrannt”
Mittlerweile liegen auch Daten zum objektiven Lernerfolg vor: Das Wissen von Studierenden, die am VR-Training teilgenommen haben, wurde mit dem Wissen von Studierenden verglichen, die stattdessen eine interaktive Videovorlesung absolviert hatten.
“Das Spannende ist, dass die Wissenszunahme direkt nach der Vorlesung bzw. dem VR-Training relativ gleich war. Aber als wir das Wissen nach 30 Tagen erneut abgefragt haben, haben die Studierenden mit VR-Training signifikant besser abgeschnitten. Offensichtlich hat sich das Wissen durch den Kontext der Notfallsituation besser eingebrannt”, erzählt Mühling. “Die Videovorlesung war hingegen quasi nur eine unter vielen.”
Nachdem Sarah ihre Schicht beendet hat, wartet im Simulations-OP der Universität Würzburg schon die nächste Patientin auf die Medizinstudierenden. Das Telefon klingelt: “Hier ist eine ältere Patientin mit deutlich geschwächtem Allgemeinzustand, die seit vier Monaten hustet”, sagt die Stimme am Telefon. “Bitte in die Notaufnahme kommen.” Jannik* betritt das Krankenzimmer.
* Name von der Redaktion geändert
Interview
mit Dr. Tobias Mühling, Leiter der AG “Virtual Reality-Simulation im Medizinstudium” sowie der Lehrklinik am Institut für Medizinische Lehre und Ausbildungsforschung der Universität Würzburg
? Welche Vorteile hat das Notfalltraining per VR?
Wenn Medizinstudierende nach ihrem Abschluss das erste Mal in die Klinik kommen, haben sie oft nur wenig praktische Erfahrung bei der Behandlung komplexer Notfallsituationen. Im Studium wird das meist mit Schauspiel-Patienten geübt, die man aufwändig organisieren und trainieren muss – und jeder “schauspielert” ja auch wieder ein wenig anders.
Viele Symptome können von diesen Schauspiel-Patienten auch gar nicht dargestellt werden, zum Beispiel tiefe Wunden oder spezielle Hautveränderungen. Und man kann an ihnen natürlich auch keine invasiven Maßnahmen durchführen und schauen, wie die Patienten auf eine Therapie reagieren. Das ist das Schöne an virtuellen Szenarien: Die Studierenden können sich ausprobieren, auch mal Fehler machen und Entscheidungen selbst treffen. Das kennen wahrscheinlich die meisten: Habe ich einmal einen Fehler gemacht, mache ich den so schnell kein zweites Mal.
Im kommenden Jahr haben wir geplant, das Notfalltraining um eine interprofessionelle Mehrspieler-Funktion zu erweitern. Dann können zwei bis drei Personen in einen Raum zusammengeschaltet werden und gemeinsam agieren, man kann also auch Medizinstudierende mit Pflegeschülern arbeiten lassen. Damit lässt sich üben, wie gute Kommunikation funktioniert, außerdem wird man natürlich sensibilisiert für die Arbeit und die Perspektive anderer Berufsgruppen.
? Gibt es auch Nachteile?
Man muss die Tutoren und Tutorinnen, die die Seminare begleiten, im Umgang mit der Technik und deren kleineren technischen Problemen schulen, das dauert natürlich eine Weile. Wobei die VR-Ausrüstung eigentlich sehr zuverlässig funktioniert, wir benutzen zum Beispiel immer noch das erste Set aus Brille und Controllern, das wir 2020 angeschafft haben. Im Einzelfall kann es auch mal zur Motion-Sickness kommen, aber auch das ist eher ein seltenes Problem.
Quellen:
1. Multimedia Systems 2023; doi: 10.1007/s00530-023-01102-0