© PrivatRuben Bernau ist Hausarzt in Hambergen (Niedersachsen).
“Er saß auf der Leiche und sägte in aller Ruhe den Wirbelkanal auf. Ich dachte nur: “Was ist denn hier los?” Er fragte: “Wer bist du denn?” Ich sagte: “Ich bin Ruben. Diese Begegnung ist heute noch so präsent, als wäre es gestern gewesen. Sie war der Beginn unserer Freundschaft.”
Tatsächlich spielt offenbar die zufällige Situation, in der sich Menschen begegnen, für die Entstehung einer Freundschaft eine große Rolle. Die Initiation von Freundschaft hat der Psychologe Prof. Mitja Back von der Universität Münster erforscht: “Ich habe festgestellt, dass schlicht die räumliche Nähe Freundschaft-stiftend ist”, sagt er.
Räumliche Nähe verbindet
Auf diese prosaische Erklärung kam der Psychologe, nachdem er allen Erstsemestern seiner Einführungsvorlesung ihren Sitzplatz im Hörsaal zugelost hatte. In der Regel saßen in der neuen Situation also Fremde nebeneinander.
In den folgenden Monaten befragte Back die Studierenden nach dem Fortgang der Beziehung zu ihren Sitznachbarn und stellte fest: Eine signifikante Zahl der zugelosten Paare waren zu Freundinnen und Freunden geworden. “Man will angenommen werden und gibt dem Sitznachbarn in einer noch neuen Situation Kredit und Vertrauen, das oft als Freundschaft bestehen bleibt”, erklärt Back das Ergebnis. Für den Beginn einer Freundschaft gelte also: “Ähnlichkeitsaspekte sind bedeutender als Persönlichkeitsaspekte.”
Hausarzt Bernau dürfte das bestätigen. Er pflegt heute noch viele Freundschaften zu ehemaligen Kommilitonen. “Inzwischen wurde geheiratet, es kamen die Kinder und Patenschaften”, erklärt Bernau. “Heute sind dies Freundschaften, die sich über 20 Jahre erstrecken.”
Erfahrungen schweißen zusammen
Die gemeinsame Erfahrung, dass Menschen ihren Arzt und ihre Ärztin so ungewöhnlich nahe an ihren Leib und ihr Leben heranlassen, produziert offenbar auch bei Hausärztinnen und Hausärzten Redebedarf.
Wohl denen, die dann Freundinnen und Freunde haben. Bernau sagt denn auch: “Wenn man allein arbeitet, wird man einsam. Ich brauche Gemeinschaft und jemanden zum Reden.”
Das Vertrauen der Patientinnen und Patienten ist offenbar ein besonderer Stoff, denn er kann auch Ärzte zu Freunden machen. “Heute haben wir schon so viel erlebt – gute Verläufe bei Patienten, schlechte Verläufe”, sagt Bernau im Rückblick. “Da hängt viel dran. Solche Erfahrungen schweißen zusammen, und die Freundschaften wachsen auch menschlich enger zusammen.”
Augenhöhe ist Voraussetzung
Der Soziologe Dr. Janosch Schobin von der Universität Kassel hat in seiner Doktorarbeit die Bedeutung der Freundschaft über die Epochen hinweg beleuchtet. So galt zum Beispiel bereits dem Philosophen Aristoteles die Augenhöhe als Voraussetzung der Freundschaft.
“Sie musste unter freien und gleichen Männern geschlossen sein”, sagt Schobin. In vielen Kulturen brauchten Freundschaften fast magische Rituale, um ins Leben zu treten, zum Beispiel den Tausch von Blut, das der Freund vom jeweils andern trank. “So lebte sozusagen eine Seele in zwei Leibern.”
Indessen sind Freundschaften, einmal gestiftet, keine selbsterhaltenden Beziehungen. Vielmehr brauchen sie Pflege: das vertraute Gespräch, die Verschwiegenheit über die gemeinsamen Themen, gemeinsame Überzeugungen – etwa seinen Patientinnen und Patienten ohne Urteil entgegenzutreten.
Einander Rat geben und Rat annehmen. Und Gegenseitigkeit, also zum Beispiel füreinander zu bürgen. Einander vor Gewalt schützen. All diese Aspekte der Freundschaft, die Schobin aufzählt, haben in modernen Freundschaften ihre Spuren hinterlassen. “Aber heute geht es auch um die Bewältigung von Freizeit, die die Freundschaften lebendig hält. Und um die gegenseitige Sorge dafür, dass das Leben Freude bereitet.”
Auch Ruben Bernaus Freundschaften halten nicht “einfach so”: “Ich bin jetzt 47 und muss, wie alles in meinem Leben, auch die Freundschaftspflege planen”, berichtet er.
Zum Beispiel die jährliche Kanu-Tour mit Freunden, den gemeinsamen Sport oder die Fortbildungen, auf denen es mit den Freunden auch mal berufspolitisch zur Sache geht – geteilte Erlebnisse, durch die die Freundschaften lebendig bleiben und reifen können.
Größter Feind: Trägheit
Denn auch wenn Freundschaften keine Scheidungen kennen, können sie in die Brüche gehen. Etwa dann, wenn Geheimnisse ausgeplaudert werden, die die Freunde einander anvertraut hatten, sagt Schobin. Oder wenn gemeinsame Überzeugungen gekündigt werden. Da hört dann die Freundschaft auf.
“Es kommt selten vor, aber manche Freundschaft musste ich auch beenden”, berichtet denn auch Bernau, “zum Beispiel wegen grundverschiedener Ansichten zur Pandemie.” Oder Freundschaften enden durch denselben Effekt, durch den sie gestiftet wurden: durch die Veränderung der äußeren Lebensverhältnisse, durch Wohnortwechsel oder Lebensumbrüche.
Der häufigste Grund für das Ende einer Freundschaft ist allerdings ein anderer: die Trägheit. Schobin sagt: “Wir verlieren einander einfach aus den Augen.” Wenn Freundschaften scheitern, dann oft deshalb, “weil sich die Freunde auseinandergelebt haben”, sagt auch der Psychologe Back.
Ein Trost aber bleibt: Verwelkte Freundschaften können eine zweite Blüte erleben – wenn beispielsweise die Kinder aus dem Haus sind, tauchen alte Freunde mitunter plötzlich wieder auf.