Zwei Wochen nach seinem letzten Termin in Ihrer Praxis (s. Teil 5) stellt sich Herr Weber erneut bei Ihnen vor. Diesmal berichtet er über eine unangenehm eingeschränkte Rumpfdrehung nach rechts.
Sie sei am Vortag nach einer banalen Greifbewegung aufgetreten, danach habe die Muskulatur zwischen den Schulterblättern richtiggehend “zugemacht”.
Red flags ausschließen
Sie hatten bei Herrn Weber ein Verkettungssyndrom mit chronischem nichtspezifischem Nackenschmerz und Epicondylopathie rechts diagnostiziert.
Die von Ihnen empfohlenen Eigenübungen für die HWS und den Unterarm führt er nach wie vor regelmäßig durch, außerdem hat er Gefallen an der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobsen gefunden, die er auf Youtube in einer kurzen (knapp zwölfminütigen) und längeren (etwa 21-minütigen) Version entdeckt hat.
Dennoch persistiert das Blockierungsgefühl im oberen Bereich der BWS.
Sturz, Trauma und andere Red flags, die eine sofortige weiterführende Diagnostik erfordern, liegen bei Herrn Weber nicht vor.
Bevor Sie die BWS untersuchen, sehen Sie noch nach dem Bewegungsausmaß der HWS und bemerken, dass sich die Rotation insgesamt verbessert hat auf knapp 70° beidseits, ebenso die Seitneigung (seitengleich 40°). Die Triggerpunkte des M. levator scapulae präsentieren sich rechts noch etwas druckempfindlich, strahlen aber nicht mehr aus.
BWS-Bewegungsausmaß prüfen
Um das Bewegungsausmaß der BWS festzustellen, können Sie bei Ihrem Patienten im Stehen als Maß für die Entfaltbarkeit das Ott-Zeichen bestimmen. Dafür markieren Sie bei dem Patienten C7 und den Punkt 30 cm kaudal davon.
Lassen Sie ihn vorbeugen wie bei der Bestimmung des Finger-Boden-Abstands. Im Normalfall vergrößert sich der Abstand von C7 bis zu Ihrer Markierung dann je nach Literatur um zwei bis vier Zentimeter [3] oder um bis zu acht Zentimeter [7].
Beim sitzenden Patienten können Sie das Bewegungsausmaß der BWS-Rotation sehr schnell im Seitenvergleich bestimmen: Bitten Sie Ihren Patienten, sich bei Beckengeradstand mit vor dem Oberkörper verschränkten Armen einmal nach links und rechts zu drehen.
Ihre Beobachtung deckt sich mit Herrn Webers Empfindung: Rotation BWS links/rechts 35/0/20. Nachdem Sie eine Hypomobilität festgestellt haben (Dreischrittdiagnostik, 1. Schritt), suchen Sie nun nach segmentalen Irritationspunkten (Dreischrittdiagnostik, 2. Schritt).
Diese finden Sie an der BWS etwa einen Querfinger paravertebral (Musculi rotatores). Auf Höhe des rechten Angulus inferior, entsprechend der Höhe Th7, tasten Sie bei Herrn Weber eine unangenehme umschriebene Verquellung.
Sie bleiben auf dem Irritationspunkt in Höhe Th7 und leiten Herrn Weber zu einer Links-und Rechtsrotation der BWS an (Dreischrittdiagnostik, 3. Schritt).
Hierbei tonisiert sich das Gewebe unter Ihrer Fingerkuppe deutlich mehr bei der Rechtsrotation und entspannt bei Linksrotation. Sie notieren sich Ihren manualmedizinischen Befund mit Th7+re.
Mit Handglisson beginnen
Da keine Kontraindikationen für manuelle Medizin und insbesondere für Manipulationstechniken bestehen (s. Teil 1), entscheiden Sie sich, folgende zwei Techniken durchzuführen: Handglisson und Pharao.
Beim Handglisson (s. Foto und Video) handelt es sich um eine sanfte, unspezifische Mobilisation der HWS, die sich bestens für den Beginn einer Behandlung eignet.
In der Regel wird der Griff als sehr angenehm empfunden – löst er Schmerzen oder gar eine radikuläre Ausstrahlung aus, ist zunächst mehr Diagnostik indiziert. Ein Tipp: Handglisson und Subokzipitaler Release (s. Teil 5) ergänzen sich in der Praxis hervorragend.
Anschließend wenden Sie den Pharao-Griff an (s. Fotos und Video). Alternativ dazu können Sie auch die Schneefräse als unspezifische Technik für Blockierungen der BWS und der Kostotransversalgelenke beim in Bauchlage platziertem Patienten durchführen (s. Foto und Video).
Fazit
Ob Sie Ihren Griff nun als “axial-kraniale Distraktion” oder “Pharao” dokumentieren (s. Kasten), essenziell für das Wohl Ihrer Patienten und Ihre eigene Zufriedenheit sind das Wissen um die korrekte Indikation und die sorgfältige Ausführung Ihrer Behandlungstechniken. In der Hoffnung, Ihr Interesse an der Manuellen Medizin mit ihren vielfältigen Techniken geweckt zu haben, wünsche ich Ihnen auf Ihrem weiteren Entdeckungskurs viel Freude und Erfolg.
Fragen und Anmerkungen gerne an: mjschroen@posteo.de
Fotos: Mit freundlicher Genehmigung von Dennis Johnson
Literatur:
- Bischoff HP, Moll H. Lehrbuch der Manuellen Medizin. Spitta, Balingen 2018.
- Böhni U, Lauper M, Locher H. Manuelle Medizin 2. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2020.
- Buckup J, Hoffmann R. Klinische Tests an Knochen, Gelenken und Muskeln. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2019.
- Wehrmedizinische Gesellschaft für Chirotherapie und Osteopathie. Videosammlung. www.hausarzt.link/b8GeN, zuletzt abgerufen am 29.08.2020.
- Vinzelberg S et al. Systematisierung und Standardisierung manueller Untersuchungs- und Behandlungstechniken. Manuelle Medizin 2019, 57:341-347. www.hausarzt.link/aSNU1, zuletzt abgerufen am 29.08.2020.
- Myers T. Anatomy Trains – Myofasziale Leitbahnen. Urban& Fischer, Maine 2014.
- Schünke M, Schulte E, Schuhmacher U. Prometheus Lernatlas der Anatomie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart/New York 2004.
- Stahlhofer H, Stahlhofer T. Ganzheitliche manuelle Behandlung. Kiener, München 2018.
Interessenskonflikte: Die Autorin hat ihre manualmedizinische Ausbildung beim Bayerischen Ärzteseminar für Manuelle Medizin gemacht und ist aktiv in manualmedizinischer Fort- und Weiterbildung.