Zusammenfassung
Unfälle in Haushalt, Straßenverkehr, Arbeit oder Freizeit, Gewalt- und andere Verbrechen, technische und Naturkatastrophen, außergewöhnliche Ereignisse wie Suizide oder schwere medizinische Zwischenfälle – sie alle haben nicht nur körperliche Folgen. Von Unversehrtheit bis zu vitaler Gefährdung reichend führen Körperverletzungen fast regelhaft zu ärztlich-medizinischen Konsultationen. Psychische und psychosoziale Folgen können von Resilienz über passagere Stressreaktionen bis hin zu Traumafolgestörungen variieren. Auch für Hausärzte sind sie ein alltägliches und vertrautes Thema. Trotz ihrer großen Bedeutung für die medizinische Behandlung und Rehabilitation finden sie nicht immer eine vergleichbare Berücksichtigung: Diagnostische Sicherheit, eigene Basisfähigkeiten und Wissen über spezielle Therapieoptionen werden oft als unzureichend, das Thema insgesamt als „aufwendig“ oder „schwierig“ empfunden. Eine angemessene Berücksichtigung erfordert eine Sensibilisierung, Kenntnisse über Frühwarnzeichen, typische psychische Folgebeschwerden und deren Verlaufsmuster sowie Kompetenzen zur psychologischen Basisbehandlung. Bei speziellem Interventionsbedarf ist eine Zusammenarbeit mit psychotherapeutisch-psychiatrischen Netzwerkpartnern im Rahmen eines gestuften Versorgungskonzepts erforderlich.
Lernziele:Nach Bearbeitung dieser Fortbildung…
- kennen Sie Risikofaktoren für psychische Folgestörungen nach potenziell traumatisierenden Ereignissen.
- sind Ihnen die wichtigsten Anzeichen für einen günstigen oder ungünstigen Verlauf bekannt.
- kennen Sie typische Merkmale akuter Belastungsreaktionen, psychischer Anpassungsstörungen und posttraumatischer Belastungsstörungen.
- wissen Sie, wie Sie Betroffene in Ihrer Rolle als Hausärztin oder Hausarzt optimal unterstützen können.
Belastende Lebensereignisse beeinflussen unvermeidbar unsere körperliche und psychische Gesundheit. Auf einem Schweregradkontinuum unterscheiden wir alltägliche Stressoren („daily hassles“), belastende Lebensereignisse („life events“) und (potenziell) traumatisierende Ereignisse. Die im Normalfall gelingende Balance zwischen Herausforderungen und verfügbaren Bewältigungsfertigkeiten wird bei zunehmender Ereignisschwere gestört [1]; psychische Labilisierung, Dekompensation und manifeste psychische Folgestörungen werden wahrscheinlicher. Art und Intensität dieser Reaktionen hängen dabei vom Ereignistyp der externen Belastung, aber auch von verschiedenen individuellen Personen- und Kontextfaktoren („Risikofaktoren“) ab. Der wissenschaftlicher Erkenntnisstand und das klinische Vorgehen sind in zwei AWMF-Leitlinien zu „Akuten Folgen psychischer Traumatisierung“ [2] und „Posttraumatischer Belastungsstörung“ [3] aufbereitet und zusammengefasst: Diese werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert, sind im Internet frei zugänglich und enthalten umfassende Beschreibungen der Thematik, der empirischen Studienlage und praktische Handlungsempfehlungen. Sie sind somit wichtige evidenzbasierte Quellen zur raschen und gezielten Orientierung auch für Hausärztinnen und Hausärzte.
Unterstützung zu Beginn
Die initialen Stressreaktionen und -beschwerden unterliegen in den ersten Tagen bzw. Wochen nach dem Ereignis starken Fluktuationen. Die meisten Betroffenen zeigen – selbst nach schweren Belastungsereignissen – einen günstigen Verlauf und können diese mit eigenen Bewältigungsmöglichkeiten (Resilienz, Coping) sowie sozialer Unterstützung allmählich wieder kompensieren. Durch Zuwendung, Empathie und entängstigende Informationen können Hausärztinnen und Hausärzte im Rahmen ihrer Behandlung wertvolle psychologische Unterstützung leisten: Aktives Zuhören, gezieltes Nachfragen und Verständnis ermöglichen es, sich ein umfassendes Bild zu machen. Sie vermitteln Patientinnen und Patienten zugleich das Gefühl, dass alle wichtigen Aspekte gesehen und ernst genommen werden. Akute Symptome zu benennen und als „normale Reaktionen auf eine unnormale Situation“ einzuordnen, kann das eigene Verstehen fördern, Verunsicherung reduzieren und begründete Zuversicht stärken. Solche (unter)stützenden (supportiven) Gespräche erfordern Zeit, die zur sekundären Prävention negativer Entwicklungen aber bestens investiert ist. Akute Beschwerden können reduziert und die Entwicklung chronischer Folgestörungen vermindert oder im besten Fall sogar verhindert werden.
Verlaufsbeobachtung
Der weitere Verlauf (Abnahme, Persistenz, Zunahme) initialer Belastungsreaktionen ist entscheidend und markiert den Übergang zu psychopathologischen Syndromen und Erkrankungen. Dazu ist eine systematische Verlaufsbeobachtung („watchful waiting“) mit wiederholten Untersuchungen und Nachfragen erforderlich. Eine günstige Entwicklung („Resilienz“, „allmählich gelingende Besserung“) kann klinisch am Nachlassen psychovegetativer und mentaler Stress-Symptome, der Wertschätzung der erfahrenen mitmenschlichen Unterstützung, der Zunahme bzw. Rückgewinnung von Selbstvertrauen und Zuversicht sowie einer wieder besser gelingenden Alltagsbewältigung festgemacht werden. Eine spezifische Weiterbehandlung ist dann zumeist nicht erforderlich und von den Betroffenen auch nicht mehr gewünscht.
Umgekehrt ist das Erkennen von „Frühwarnzeichen“ und „Risikofaktoren“ für psychische Folgestörungen wichtig: Potenziell traumatisierende Umstände (Lebensbedrohung, Ausgeliefertsein, irreversible Verluste) sowie stark ausgeprägte Initialreaktionen (zum Beispiel massive Angst und Panik, Stupor- oder Erregungszustand, dissoziatives Erleben) müssen registriert, erfragt oder aus Vorbefunden entnommen werden. Wiederholte Untersuchungen sind wichtig, um den Übergang noch normalpsychologischer Reaktionen zu manifesten Folgestörungen zuverlässig beurteilen zu können. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen positiven Entwicklungsindikatoren verweisen folgende Anzeichen auf einen ungünstigen Beschwerdeverlauf: 1. hartnäckig persistierende oder gar zunehmende Stress- und Übererregungssymptome; 2. sozialer Rückzug, fehlende zwischenmenschliche Resonanz bis zu Entfremdungsgefühlen und Isolation; 3. Infragestellung des Selbstwerts, Selbstvorwürfe, Demoralisierung, Resignation; 4. Einbußen der Funktionstüchtigkeit in Beruf, sozialen Beziehungen und Aktivitäten. Es kann zu einer ungünstigen Eigendynamik, Chronifizierung und Symptomausweitung (Komorbidität) kommen.
Risikofaktoren einordnen
Der Ereignistyp („man-made-Trauma“, zum Beispiel sexuelle Gewalt), das reale bzw. subjektiv erlebte Gefährdungspotenzial (Lebensbedrohung), Schwere und Dauer des Belastungserlebens (z.B. technische Bergung) und Reversibilität der Folgen (Tod von Unfallbeteiligten, chronische Behinderungen) sowie Besonderheiten der Erst- und Folgebehandlungen (wie Schockraum, Intensivstation) sind ereignisbezogene Risikofaktoren. Sie können als die zentralen und primär-kausalen Faktoren der seelischen Einwirkungen angesehen werden. Daneben spielen aber auch unfallunabhängige Personen- und Schutzfaktoren eine Rolle. Es werden prä-, peri- und posttraumatische Faktoren unterschieden (s. Tab.1).
Wichtig: Traumata können auch bei bis dato gesunden und funktionalen Personen psychische Störungen verursachen! Risikofaktoren wirken als Moderatorvariablen, die die Wahrscheinlich für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Folgestörungen erhöhen können. Das empirische Wissen über Risikofaktoren darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das pathogene Potenzial von Ereignissen häufig nur über die individuelle Bedeutung und erst im Verlauf zuverlässig rekonstruieren lässt.
Psychische Folgestörungen
Nur bei einer Minderheit kommt es zu Folgestörungen. In der ICD-10 („Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“) bzw. ICD-11 („Stressbedingte Störungen“) werden nach Ereignisschwere (Traumakriterien erfüllt?), Symptommuster und Verlauf sowie Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen drei primäre Unterformen unterschieden (s. Tab. 2) [4]: akute Belastungsreaktion, psychische Anpassungsstörung und posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).