128. Deutscher Ärztetag„Steuerung ist das Gebot der Stunde“

Ärztinnen und Ärzte arbeiten längst am Limit – dabei wird der Versorgungsbedarf weiter steigen. Um die medizinische Versorgung in Zukunft noch stemmen zu können, wird es ohne Steuerungselemente nicht gehen. Ein Modell, das beim Deutschen Ärztetag viel Lob erfuhr: die HZV.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther: Mit Primärversorgung Krankenhaustage einsparen.

Mainz. “Ob in der Klinik, auf Station, in den Notaufnahmen, im OP, in der Niederlassung, in Haus- oder Facharztpraxen – eins stellen wir fest: Alle arbeiten am absoluten Leistungslimit”, sagte Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, in seiner Einführungsrede zum zweiten Top-Thema des 128. Deutschen Ärztetages in Mainz und dem Leitantrag “Gesundheitsversorgung der Zukunft – mehr Koordination der Versorgung und bessere Orientierung für Patientinnen und Patienten”.

Die kontinuierliche Überlastung und die oft zu knappe Zeit, die für die Versorgung der Menschen zur Verfügung steht, führt zu Frustration der Ärzteschaft und auch der Patienten, erklärte Reinhardt am Mittwoch (8.5.). Es sei daher zwingend nötig, sich mit den Strukturen des Gesundheitssystems zu befassen.

Derzeit stehe es ausschließlich im Ermessen der Patienten, welche Ärztin oder welchen Arzt sie wählen. Auch wenn die freie Arztwahl in Deutschland sehr hochgehalten werde, werde es ohne sortierendes, koordinierendes Angebot künftig nicht mehr gehen, meinte Reinhardt. Viele der Menschen, die derzeit in Notfallambulanzen landeten, wären besser in einer Praxis aufgehoben gewesen.

Passgenauere und effizientere Versorgung

Es sei an der Zeit, Leitplanken für Patienten zu gestalten, die einerseits weiterhin ein Maß an Autonomie gewährleisteten, andererseits müsse die Versorgung koordinierter, passgenauer und effizienter werden.

Diese Forderung findet sich auch im Leitantrag wieder, in der die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) explizit erwähnt wird:

„Die Patientinnen und Patienten in Deutschland sollten für die primäre Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung eine Arztpraxis verbindlich wählen. Dieser “erste Anlaufpunkt“ übernimmt für alle gesundheitlichen Anliegen die primärärztliche Versorgung sowie die Koordination einer notwendigen Weiterbehandlung bei Fachärztinnen und Fachärzten in allen Gebieten und in weiteren Versorgungsbereichen. Die primärärztliche Versorgung erfolgt durch eine Hausärztin/einen Hausarzt. Das SGB V ermöglicht schon heute die hausarztzentrierte Versorgung gemäß Paragraf 73b SGB V, die die qualitätsgesicherte und leitliniengerechte Koordinations- und Integrationsfunktion der Hausärztinnen und Hausärzte in enger Zusammenarbeit mit anderen Fachärztinnen fördert. Dies hat sich bewährt und ist weiter auszubauen…Die freie Arztwahl bleibt im Rahmen dieser Vorgaben erhalten. “

Gesundheitsökonom lobt HZV

Auch Prof. Wolfgang Greiner, Inhaber des Lehrstuhls für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Universität Bielefeld, lobte in seinem Gastvortrag die HZV und stellte evaluierte Zahlen aus Baden-Württemberg vor.

Positiv sei hier vor allen Dingen, dass deutlich weniger Krankenhaustage bei HZV-Teilnehmenden festgestellt worden seien (etwa 5,5 Prozent). Auch international gebe es viel Evidenz zu den Auswirkungen einer primärärztlichen Steuerung, die sehr positiv seien.

In Deutschland gebe es zahlreiche Einzelregularien, die die Sektorengrenzen überwinden helfen sollen. Für eine bessere Koordination fehle derzeit aber noch ein Gesamtkonzept – das könnte die HZV sein, meinte Greiner weiter.

Hecken: Ohne Selbstbeteiligung wird es nicht mehr gehen

Ebenso unterstrich Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), in seiner Gastrede: “Wir brauchen den Primärarzt, weil wir es in Zukunft mit älteren, multimorbiden Patienten zu tun haben.”

Zugleich werde die Versorgung spezieller – Menschen könnten immer weniger abschätzen, bei welcher Ärztin oder Arzt sie an der richtigen Stelle sind. Es sei demnach wesentlich mehr Koordinierung nötig. “Wenn wir einen guten Primärarzt haben”, sagte Hecken in Mainz weiter, müsse dessen Tätigkeit auch entbudgetiert sein und verwies damit aufs Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz. Dann sei auch kein irgendwie gearteter Lotsendienst erforderlich.

Außerdem, führte Hecken aus, käme man in Zukunft nicht an einer wie auch immer gestalteten Selbstbeteiligung vorbei. „Was nichts kostet, ist nichts wert“, sagte er. Um die Finanzierung des Gesundheitssystems zu sichern, seien auch Wahltarife denkbar oder Aufschläge für gesundheitsgefährdendes Verhalten (etwa Rauchen). Heckens weiterer Vorschlag: Die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel reduzieren.

Millionen Krankenhaustage sparen

„Steuerung ist das Gebot der Stunde“, unterstrich auch Bundestagsabgeordnete Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen), Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit. Mit einer sinnvollen Reform der Notfallversorgung, erklärte Kappert-Gonther, könnten laut einer Untersuchung 32 Millionen Behandlungstage in Kliniken gespart werden. Mit einer stärkeren Steuerung durch eine Primärversorgung, könnten obendrauf noch einmal 20 Millionen stationäre Behandlungstage gespart werden.

Den Leitantrag „Gesundheitsversorgung der Zukunft – mehr Koordination der Versorgung und bessere Orientierung für Patientinnen und Patienten“ nahmen die Delegierten mit deutlicher Mehrheit (208 Ja-Stimmen von insgesamt 233 Stimmen) an.

“Hausärztliche Argumente sind durchgedrungen”

“Dass sich der Deutsche Ärztetag in seinem Leitantrag klar und deutlich zu einer strukturierten, hausärztlichen Steuerung der Patientinnen und Patienten bekennt und dabei ausdrücklich den Ausbau der Hausarztverträge fordert, ist ein starkes Zeichen. Dies wäre vor wenigen Jahren noch kaum vorstellbar gewesen”, erklärte Dr. Markus Beier, Bundesvorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, nach der Abstimmung am Mittwoch.

“Das zeigt, dass wir Hausärztinnen und Hausärzte mit unseren Argumenten für eine bessere Koordination der Versorgung insbesondere durch uns Primärärzte durchgedrungen sind und sich heute die gesamte Ärzteschaft hinter dieser Idee versammelt. Das ist nur konsequent, denn alle Versorgungsbereiche und vor allem die Patientinnen und Patienten profitieren davon.”

Jetzt sei der Gesetzgeber gefordert: “Das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz bietet die Gelegenheit, die hausärztliche Versorgung und insbesondere die Hausarztverträge zu stärken und zu fördern. Die Entscheidung des Deutschen Ärztetages gibt für die weiteren Verhandlungen Rückenwind.“

 

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