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"Der Fall"Depression bei Älteren erkennen

Bei älteren Menschen ist es oft nicht einfach, eine Depression festzustellen. Denn häufig klagen die Betroffenen vor allem über körperliche oder kognitive Probleme.

Die Patientin berichtet, keinen Appetit mehr zu haben und sich zu nichts mehr aufraffen zu können (Symbolbild).

Das sagt der Hausarzt

von Dr. med. Reto Schwenke, Gemeinschaftspraxis für Allgemein- und Familienmedizin, Akademische Lehr- und Forschungspraxis der Universität Heidelberg, Walzbachtal

Ich erfasse zunächst die allgemeinen Laborwerte und führe einen allgemeinen Check-up und das geriatrische Basisassessment mit einer DemTect*-Untersuchung durch (Ergebnis: zwölf Punkte). Außerdem frage ich die Geriatrische Depressionsskala (GDS)** ab (Ergebnis: elf Punkte).

Die Diagnose Depression sichere ich mithilfe der ICD-11-Kriterien und durch das Bestimmen des Schweregrads nach ICD-10 (s. Tab. 1 und 2 unten). Das Ergebnis “sechs bis sieben Symptome” weist auf eine mittelgradige Depression hin.

Für die Behandlung ist es wichtig, die sozialen Kontakte und das Eingebundensein zu reaktivieren. Das schließt auch die Teilnahme am Seniorencafé und an der Hockergymnastik ein. In Absprache mit dem familiären Umfeld sollten gemeinsame Mahlzeiten sowie die familiäre Teilhabe ermöglicht werden.

Auf Wunsch der Angehörigen erfolgt die Behandlung mit Sertralin 50 mg einmal morgens. Ich erkläre den Angehörigen, dass Antidepressiva (hier SSRI) wirksam sind, aber eine geringe Wirkstärke aufweisen. Zudem weise ich darauf hin, dass zusätzlich auch eine psychotherapeutische Intervention (KVT) möglich ist.

Frau M. und die Angehörigen bevorzugen eine hausärztliche Gesprächsbegleitung. Dazu planen wir Verlaufstermine, auch um die psychosozialen Aspekte, die Aktivitäten und die Teilhabe zu erfassen. Zusätzlich erfolgt im Rahmen dieser Termine auch ein Verträglichkeitsmonitoring.

Einen Interaktionscheck mit den bestehenden Medikamenten habe ich durchgeführt (mittels “Drug Interaction Checker”, s. www.hausarzt.link/hx9b4). Vor der Behandlung mit SSRI ist auch ein EKG wichtig.

Interessenkonflikte: keine. Mitgliedschaft HÄV, DEGAM, DGPR, Ärztegesellschaft für Erfahrungsheilkunde.

* www.hausarzt.link/XFX3T ; > 12 Punkte: altersgemäße kognitive Leistung; 9-12 Punkte: Hinweis auf MCI

** erhältlich zum Beispiel hier: www.hausarzt.link/dQZLT ; ≥ 6 Punkte: depressive Störung wahrscheinlich

Das sagt der Spezialist

von Dr. med. Dominik Büll, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, München

Die Vorstellung einer Patientin mit den geschilderten Symptomen kann durchaus den einen oder anderen Fallstrick bereithalten. Generell muss nach Anamnese und Untersuchung zunächst jede Form einer organischen Ursache ausgeschlossen werden, vor allem in Hinblick auf die verschiedene Organsysteme betreffenden Leitsymptome (gastrointestinale Beschwerden, Kopfschmerz, diffuses depressives Syndrom, fragliches Delir).

Dem geneigten Kliniker mag im vorliegenden Fall ein vielleicht noch aus dem Studium erinnerter Satz einfallen: “Stein-, Bein- und Magenpein – und ein bisschen traurig sein!” Die Rede ist vom – im klinischen Alltag gar nicht so seltenen – Zufallsbefund eines primären Hyperparathyreoidismus.

Gerade bei diffusen gastrointestinalen Beschwerden und neuropsychiatrischen Auffälligkeiten wie depressiven und (nicht seltenen!) psychotischen Symptomen sowie intermittierenden Verschlechterungen wie bei Frau M. sollten Sie immer an eine solche Differenzialdiagnose denken.

Neben neuropsychiatrischen Symptomen wie Müdigkeit, Kraftlosigkeit, Depressionsneigung, Desorientierung und Gedächtnisstörungen können nierenassoziierte Symptome, Polydipsie und Polyurie auftreten. Beschwerden des Magen-Darm-Trakts wie Appetitlosigkeit, Erbrechen, Gewichtsabnahme und Verstopfung können durch eine Hyperkalzämie ebenso verursacht sein wie Störungen der Herz-Kreislauf- Funktion (Herzfrequenzsteigerungen, Rhythmusstörungen, Bluthochdruck).

Die häufigste Organmanifestation ist das Nierensteinleiden, das zur kompletten Verkalkung des Nierengewebes führen kann. Bei sehr hohen Kalziumspiegeln können lebensbedrohliche Krisen auftreten, die zu einem akuten Nierenversagen und Hirnfunktionsstörungen (!) bis hin zum Koma führen können. [1]

Die Diagnose des primären Hyperparathyreoidismus erfolgt recht unkompliziert über die Bestimmung von Calcium, Phosphat und Parathormon. Bei Diagnosestellung müsste die Vorstellung zur ggf. chirurgischen Intervention erfolgen.

Nach erfolgter organischer Ausschlussdiagnostik und negativem Ergebnis sollte im Rahmen der Möglichkeiten des Praxisalltags die weitere differenzialdiagnostische Abklärung erfolgen. Hier ist vor allem wichtig zu unterscheiden, ob es sich um eine Depression bzw. (pseudo-)demenzielle Entwicklung oder um ein bereits beginnendes demenzielles Syndrom (MCI) handelt.

Oft steht bei Erstvorstellung im Rahmen eines beginnenden neurodegenerativen Prozesses eher eine affektive Symptomatik im Vordergrund bzw. fallen die nachlassenden kognitiven Funktionen zunächst nicht auf oder werden bagatellisiert.

Bei entsprechendem Befund sollte dann leitliniengerecht anbehandelt werden, hierzu sei auf die jeweiligen einschlägigen S3-Leitlinien* [2,3] verwiesen. Die Behandlung sollte im Shared Decision Making mit der Patientin erfolgen, wobei Sie – falls möglich – die Angehörigen hinzuziehen sollten.

Interessenkonflikte: Dr. Büll erhält Vortragshonorare und Reise- oder Weiterbildungskosten oder Teilnahmegebühren durch die Firmen Medice, Takeda und Neuraxpharm.

Quellen/Literatur:

1. Universitätsklinikum Marburg, www.hausarzt.link/wM35w

2. NVL “Unipolare Depression”, Version 3.2, 2022. AWMF-Register-Nr. nvl-005

3. S3-Leitlinie Demenzen. Version 4.0, 2023. AWMF-Register Nr. 038-013

* Anmerkung der Redaktion: Einige Experten, auch aus der DEGAM, äußerten Kritik an der aktualisierten Demenz-Leitlinie (mehr dazu s. www.hausarzt.link/Se8mB).

Das sagt die evidenzbasierte Medizin

Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter. Risikofaktoren können zum Beispiel Schlafstörungen, (neu auftretende) körperliche Erkrankungen oder der Verlust des Partners sein. Dabei stellen ältere Patienten oft vor allem körperliche Beschwerden oder kognitive Beeinträchtigungen in den Vordergrund. [1]

Generell empfiehlt die NVL “Unipolare Depression” [2], Menschen mit erhöhtem Risiko für eine Depression bei Kontakten in der Hausarztversorgung Maßnahmen zur Früherkennung anzubieten. Liegen Beschwerden oder Merkmale vor, die auf eine depressive Störung hinweisen, empfiehlt die NVL, das Vorliegen einer depressiven Störung bzw. das Vorhandensein weiterer Symptome einer depressiven Störung aktiv zu explorieren.

Die psychopathologische Befunderhebung bzw. Diagnose nach ICD erfolgt durch Erfassung der Haupt- und Zusatzsymptome, Bestimmung des Schweregrads (s. Tab. 1 und 2) und Erfassung der Verlaufsaspekte. Eine Ergänzung können psychometrische Tests darstellen; für den ambulanten Versorgungsalltag empfiehlt die NVL den Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-9) und die Geriatrische Depressionsskala (GDS). [2]

Zur Differenzialdiagnostik sowie zum Ausschluss somatischer Ursachen, Begleiterkrankungen oder Kontraindikationen hinsichtlich der geplanten Behandlung können zusätzliche Untersuchungen nötig sein.

Aufgrund der im Alter gängigen Polymedikation ist es wichtig abzuklären, ob die Einnahme bestimmter Medikamente als Auslöser einer Depression infrage kommt (zum Beispiel Betablocker, Prazosin, Clonidin, Kortikosteroide, Cimetidin, manche Antibiotika) [2, 3]. Bei allen Patienten mit einer depressiven Störung soll Suizidalität regelmäßig klinisch eingeschätzt und gegebenenfalls exploriert werden [2].

Zur Behandlung depressiver Störungen kommen gemäß NVL in Abhängigkeit von Schweregrad und Erkrankungsphase verschiedene Optionen in Betracht, die einzeln oder in Kombination eingesetzt werden können.

Bei der Aufklärung und Information über Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten sollen die unterschiedlichen Optionen mit ihren Vor- und Nachteilen umfassend und in verständlicher Form dargestellt werden; Entscheidungen sollen entsprechend dem Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung erfolgen. Wenn die Patienten einverstanden sind, sollen Angehörige in die Aufklärung, Information und Behandlung eingebunden werden.

Bezüglich der Auswahl der Antidepressiva weist die NVL unter anderem darauf hin, dass bei älteren Menschen mit somatischen Vorerkrankungen ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen besteht und dass Kontraindikationen, die Gefahr von Arzneimittelinteraktionen sowie mögliche Effekte auf die Komorbidität zu beachten sind. Die Autoren machen außerdem darauf aufmerksam, dass die Wirklatenz von Antidepressiva bei älteren Menschen länger sein kann. [2]

Hinweis: Die NVL Unipolare Depression [2] beinhaltet auch die (Unter-)Kapitel “Ältere Patient*innen” sowie “Komorbidität”. Diese befinden sich aktuell noch in Bearbeitung.

Literatur:

1. Stoppe G. Depressionen im Alter. Bundesgesundheitsblatt 51, 406–410 (2008). doi: 10.1007/s00103-008-0508-7

2. NVL “Unipolare Depression”, Version 3.2, 2022. AWMF-Register-Nr. nvl-005

3. Depression im Alter. MMW – Fortschritte der Medizin 164, 35 (2022). doi: 10.1007/s15006-022-1067-9

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