NeurologieUmstritten: Die neue S3-Leitlinie Demenzen

Die Empfehlungen für die Versorgung von Menschen mit Demenz sind aktualisiert worden. Als wichtigste Neuerung gilt die Möglichkeit, die Diagnose Alzheimer auch dann stellen zu können, wenn keine Demenz vorliegt. Einige Experten sehen dies aber kritisch.

Bisher musste für die Diagnose Demenz die Selbstständigkeit stark beeinträchtigt sein. Das hat die Frühdiagnostik erschwert.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) haben die Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie von Demenzen neu erarbeitet. Unter ihrer gemeinsamen Federführung ist ein neues Schriftwerk entstanden, das insgesamt 109 Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie von Demenzen umfasst.

Aus Sicht von Frank Jessen, der für die DGPPN als Koordinator der Leitlinie gearbeitet hat, bringen die neuen Empfehlungen große Vorteile. “Bislang musste für die Diagnose Demenz die Selbstständigkeit der Menschen deutlich beeinträchtigt sein”, erläutert der Psychiater, der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Köln ist. Das habe eine echte Frühdiagnostik erschwert. Doch künftig könne man den Betroffenen deutlich früher Behandlungsangebote machen und so hoffentlich das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen.

Maßgeblich dafür ist eine Empfehlung, die die Leitlinien-Autoren neu in das Diagnostik-Kapitel der Leitlinie eingebracht haben. Demnach ist es künftig zulässig, die Diagnose Alzheimer auch bei Menschen zu stellen, die im Alltag bestens allein zurechtkommen. Möglich ist das laut Leitlinie, wenn zwei Kriterien erfüllt sind:

  1. Es liegt nach Ansicht des behandelnden Arztes eine “leichte kognitive Störung” vor. Diese sollte laut Leitlinie “basierend auf dem klinischen Befund und dem neuropsychologischen Nachweis einer kognitiven Störung bei vollständig oder weitgehend erhaltener Alltagskompetenz und vollständiger Selbstständigkeit gestellt werden”.
  2. Es gibt einen “eindeutigen Biomarker-Hinweis (Tau- und beta-Amyloid-Pathologie) für das Vorliegen einer Alzheimer-Pathologie”. Um diese Biomarker zu bestimmen, gibt es zwei Verfahren: die Liquordiagnostik und die PET-Bildgebung.

Der Neurologe Richard Dodel, für die DGN Koordinator der Leitlinie, erläutert den Hintergrund: “Über die Rückenmarksflüssigkeit können Pathologien im Bereich der Amyloide und der Tau-Proteine nachgewiesen werden, die ursächlich für die Alzheimer-Erkrankung sind.” So könne Alzheimer diagnostiziert werden, “auch wenn die Symptomatik noch nicht voll ausgeprägt ist”.

Kritische Stimmen

Einige Fachleute, die an der Überarbeitung der Leitlinie beteiligt waren, sehen das jedoch kritisch. Zwei Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) haben gegen die neue Empfehlung gestimmt und ein Sondervotum formuliert: Die Diagnose einer Alzheimer-Krankheit könne nicht bereits im Stadium der leichten kognitiven Störung gestellt werden, halten Horst Christian Vollmar, Professor für Allgemeinmedizin an der Ruhr-Universität Bochum, und Thomas Lichte, Emeritus an der Universität Magdeburg, darin fest.

“Wenn die international konsentierten Diagnosekriterien nicht erfüllt sind, liegt noch keine Alzheimer Erkrankung vor.” Es sei unklar, wie lange es bis zur Manifestation der Erkrankung dauere. Unklar sei ebenso, ob bei leichten kognitiven Störungen auch eine frühere Therapie beabsichtigt sein könnte.

Zudem finden sich in der neuen Leitlinie einige Stellen, die noch diskutiert werden sollten. So heißt es darin, dass “die Diagnose der leichten kognitiven Störung nach ICD-10 (F06.7) weit gefasst” ist und sich auf geistige Beeinträchtigungen bei “verschiedenen, auch vor-übergehenden körperlichen Erkrankungen” bezieht. Eine leichte kognitive Störung ist demnach mitnichten ein klarer Beleg für das Vorliegen einer Demenz.

Unklar ist auch die Relevanz der Biomarker. Nach wie vor ist umstritten, ob Veränderungen im Bereich der Amyloide und der Tau-Proteine für die Alzheimer-Krankheit wirklich ursächlich sind. Der Neuropathologe Christian Behl, Direktor des Instituts für Pathobiochemie der Universität Mainz, erklärt, warum.

“Wir wissen seit Langem, dass die Menge der Amyloid-Plaques im Gehirn kaum mit dem Krankheitsbild oder der geistigen Leistung korreliert.” So finde man einerseits bei manchen Demenzkranken mit schwersten Symptomen ziemlich gesund aussehende Gehirne. Andererseits gebe es viele Menschen, die bis zu ihrem Tod im hohen Alter geistig fit waren, deren Hirne aber voller Amyloid-Plaques sind.

Dass die Auslöser der Alzheimer-Krankheit unbekannt sind, steht auch in der Leitlinie selbst. Auf Seite 54 wird die international gültige ICD-10-GM-Definition zitiert. Demnach ist die Alzheimer-Krankheit eine “primär degenerative zerebrale Krankheit mit unbekannter Ätiologie”.

Neue Antikörper

Das Präparat Leqembi steht in Europa kurz vor der Zulassung. In den USA ist das Mittel, das den Wirkstoff Lecanemab enthält, bereits seit einem Jahr (Januar 2023) auf dem Markt. Dabei handelt es sich um einen biotechnologisch hergestellten Antikörper, der sich gegen Amyloid-Plaques richtet und alle zwei Wochen per Infusion verabreicht werden muss (“Der Hausarzt” berichtete). Zahlreiche Medien feiern Leqembi bereits als “Durchbruch” und “Hoffnung für Alzheimerpatienten weltweit”.

Unabhängige Experten sehen das jedoch deutlich anders. “Lecanemab ist kein Heilmittel für die Alzheimer-Krankheit”, warnt die renommierte US-Verbraucherschutzorganisation Public Citizen. “Das Medikament kann die kognitiven Funktionen nicht wiederherstellen oder die verloren gegangenen Erinnerungen zurückbringen.”

Stattdessen bringe eine Behandlung mit Lecanemab gravierende Risiken und Nebenwirkungen mit sich. So traten in der Zulassungsstudie bei einem von fünf Patienten lebensgefährliche Hirnschwellungen und Hirnblutungen auf. Bei drei Probanden, die während der 18-monatigen Testphase starben, wurde der Tod mit Lecanemab in Zusammenhang gebracht.

Public Citizen hat das Präparat deshalb als “Do Not Use”-Medikament eingestuft. Mit einer solchen Warnung rät die Verbraucherschutzorganisation von jeglicher Verwendung unnötig riskanter oder nutzloser Arzneimittel ab.

Hinzu kommt, dass Lecanemab erklärtermaßen nicht an Demenz erkrankten Menschen verabreicht werden soll, sondern mehr oder weniger Gesunden. “Erkrankte mit bereits fortgeschrittenen Symptomen oder einer anderen Form der Demenz werden nicht von einer Behandlung profitieren”, so Stefan Teipel, Leiter der klinischen Forschung des Deutschen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen am Standort Rostock/Greifswald.

Sollte das Medikament zugelassen werden, gehe es also nicht um Personen, die vielleicht schon Schwierigkeiten haben, ihre Angehörigen zu erkennen oder Ähnliches, sondern um jene, die im Alltag noch gut oder nur mit geringen Einschränkungen zurechtkommen.

Hohes Gefahrenpotenzial

Genau das aber, neurologisch noch fast Gesunde einer solchen Gefahr auszusetzen, sei unverantwortlich, findet Bernd Mühlbauer, Professor für Pharmakologie am Klinikum Bremen-Mitte und stellvertretender Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Zumal es auch bei Lecanemab keinen klaren Nachweis für einen medizinischen Nutzen gab.

Eine offizielle Nutzenbewertung des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) oder eine Stellungnahme der AkdÄ liegt noch nicht vor.

In der Zulassungsstudie schnitten jene Probanden, die das echte Medikament erhalten hatten, in einem speziellen Gedächtnistest zwar besser ab als jene in der Placebogruppe. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen war jedoch minimal.

Über einen Zeitraum von 18 Monaten hatte der Schweregrad der Demenz bei Patienten, die Lecanemab erhielten, um 1,21 Punkte zugenommen. Unter Placebo waren es 1,66 Punkte. Der Unterschied von 0,45 Punkten gilt zwar als statistisch signifikant. Völlig unklar ist jedoch, wie relevant dieser Unterschied für den Alltag der Betroffenen ist. “Wahrscheinlich merkt der Patient davon kaum etwas”, räumt Stefan Teipel ein.

Unterdessen hofft bereits der nächste Arzneimittelhersteller mit einem ähnlichen Alzheimer-Medikament mit dem Wirkstoff Donanemab in den USA auf eine Zulassung. Auch dieser ist ein Antikörper, der sich gegen Amyloid-Plaques richtet und der das Fortschreiten der Krankheit in einem frühen Stadium verlangsamen soll. Noch vor einem Jahr hatte die FDA eine beschleunigte Zulassung für das Medikament abgelehnt.

Doch inzwischen gibt es neue Daten. Demnach verschlechterte sich der Schweregrad der Demenz bei den Patienten, die Donanemab erhalten hatten, um 1,72 Punkte und um 2,42 Punkte in der Placebogruppe. Das entspricht einem Unterschied von 0,70 Punkten. “Auf einer 18-Punkte-Skala sind die Unterschiede von 0,45 (mit Lecanemab) und 0,70 (mit Donanemab) mit 2,5 Prozent, respektive 3,9 Prozent, gering”, urteilen Experten von Public Citizen. Zumal es auch in der Donanemab-Gruppe zu drei Todesfällen kam, die als behandlungsbedingt angesehen wurden.

“Natürlich wäre ich heilfroh, wenn wir ein wirksames und sicheres Medikament gegen Demenz hätten”, sagt Vollmar. Aber das sei nun einmal bis heute nicht der Fall. Er halte eine Alzheimer-Diagnose bei Menschen ohne Demenz daher für “sehr problematisch”. Eine solche Diagnose könne negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen haben und im schlimmsten Fall sogar zu einer erhöhten Rate von Suiziden führen.

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