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MS-BehandlungNeuer Therapieansatz bei Multipler Sklerose

Die Fortschritte in der MS-Behandlung verlangen nach neuen Konzepten. Ein innovatives Therapieprinzip ist die Bruton-Tyrosinkinase-Inhibition, die auch hinter der Blut-Hirn-Schranke wirkt, um die pathologischen Autoimmunprozesse der MS direkt im ZNS zu beeinflussen.

Die bis zuletzt jahrelang für gültig erachtete Unterscheidung zwischen schubförmig wiederkehrender Krankheitsaktivität (RRMS = relapsing remitting MS) und anschließender sekundär progredienter Erkrankung (SPMS) lässt sich nicht mehr aufrechterhalten.

Neurodegenerative Krankheitsprozesse treten bei der MS nicht erst nach einer gewissen Vorlaufzeit auf, die initial angeblich allein durch klinisch sichtbare Ereignisse imponieren würde, sondern bereits von Anfang an – wahrscheinlich sogar schon vor definitiver Diagnosestellung einer manifesten MS.

Dieses Phänomen hat jetzt unter dem Akronym PIRA (Progression Independent of Relapse Activity) vermehrt Aufmerksamkeit bei einer Neubewertung des typischen Krankheitsverlaufs einer MS gefunden. Demnach finden neurodegenerative Prozesse schon zu Beginn einer MS-Karriere statt und begleiten den weiteren Verlauf auch unabhängig von klinisch sichtbaren Anzeichen der chronisch voranschreitenden Autoimmunerkrankung.

Sie setzen ihr zerstörerisches Werk als subklinische, subtile Neuro-Inflammation und -Degeneration auch dann fort, wenn entzündliche Prozesse im ZNS mit herkömmlichen Methoden nicht mehr nachweisbar sind. Genau an dieser Stelle setzt die neue Substanzklasse der Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren (BTKi) an.

Historie der MS-Therapie

Zu Beginn der Evidenz-basierten MS-Behandlung vor rund 30 Jahren stellte es noch einen großen Fortschritt dar, auf die klinische Ausprägung der Autoimmunerkrankung in Schüben nicht nur schnell, sondern auch nachhaltig zu antworten.

Die akute Intervention mit hochdosierten Kortison-Puls-Therapien zwecks Schadensbegrenzung wurde alsbald ergänzt und wesentlich erweitert durch immunmodulatorisch wirksame Therapieansätze, mit denen die Schubfrequenz auch in der Folgezeit nach einem akuten Ereignis substanziell gemindert werden sollte.

Der einfach zu messende Parameter der jährlichen Schubfrequenz (ARR = annualized relapse rate) hat sich seitdem durchgängig als entscheidendes Erfolgskriterium in klinischen Studien für die Zulassung von MS-Präparaten etabliert.

Doch mit der Zeit stellten sich die Behandlungsfortschritte als immer schwierigere Herausforderungen für die Entwicklung und Zulassung neuer MS-Präparate dar. Während die gesenkten Schubraten höhere Hürden für das Zulassungsprozedere bedeuteten, wurde es für die Pharmaunternehmen auch immer schwieriger, geeignete Probanden für Therapiestudien zu finden, bei denen sich noch ein Benefit eines neuen Präparates nachweisen ließe.

Das wird deutlich am Vergleich von Zulassungsstudien aus den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit jüngsten Zulassungsstudien. So lagen die ARR nach Therapie mit den damals verfügbaren Beta-Interferonen gesenkt bei 0,37-0,5. Und in einer Vergleichsstudie zwischen dem monoklonalen Antikörper Ofatumumab und Teriflunomid lagen die ARR schließlich bei 0,11 vs. 0,23.

Mit einem ähnlichen Ergebnis hatte wohl die Firma Merck gerechnet, als sie ihr Präparat Evobrutinib ebenfalls gegen Teriflunomid ins Rennen geschickt hatte. Hier überraschte aber Teriflunomid mit dem besonders guten Ergebnis einer ARR-Senkung auf 0,11, so dass Evobrutinib in dieser Hinsicht in einer der Zulassungsstudien mit ebenfalls 0,11 keinen weiteren Vorteil mehr zeigen konnte.

Enttäuschende BTKi-Erfolge?

“Die enttäuschende Wirksamkeit des MS-Hoffnungsträgers Evobrutinib belastet Aktien der Merck KGaA am Mittwoch schwer”, lautete eine Schlagzeile der Nachrichtenagentur dpa-AFX am 6. Dezember 2023. Dass es sich bei dieser Meldung um eine klassische Diskrepanz zwischen Börsen- und Wissenschaftsnachricht handelte, konnte natürlich nur den “Insidern” des Wissenschafts- und Medizinbetriebs auffallen.

Denn die angebliche “enttäuschende Wirksamkeit” musste allein aus börsenrechtlichen Gründen ad hoc vermeldet und allgemein verbreitet werden, um einen Insiderhandel mit Aktien auszuschließen. Dabei zeigten die somit zwangsweise vorzeitig veröffentlichten Studiendaten keineswegs die Unzulänglichkeit der neuen Substanz, sondern vielmehr des primären Outcome-Parameters.

Schließlich handelt es sich bei Evobrutinib um einen prominenten Vertreter der neuen Substanzklasse der BTKi, die eben nicht dafür entwickelt wurden, noch ein Hundertstel mehr an ARR-Senkung gegenüber einer ohnehin schon sehr gut wirksamen Vergleichssubstanz herauszuholen.

Der Fortschritt der neuen Substanzen besteht vielmehr darin, dass sie als kleine Moleküle imstande sind, die Blut-Hirn-Schranke (BHS) zu überwinden, um die pathologischen Autoimmunprozesse der MS direkt im ZNS beeinflussen zu können. Und das Erfolgskriterium für diesen innovativen Ansatz lautet eben nicht ARR-Senkung, sondern geht weit darüber hinaus.

So wird eine für den Patienten substanzielle Minderung der Behinderungsprogression angestrebt, die ansonsten zu einem großen Teil auch unabhängig von klinisch sichtbaren Schüben die Lebensqualität zunehmend zerstört.

Große Hoffnungen werden vor diesem Hintergrund in solche neuen Therapieansätze gesetzt, die nicht nur die schleichende Progression der Autoimmunerkrankung adressieren, sondern auch die neurodegenerativen Prozesse, die sich hinter der Blut-Hirn-Schranke (BHS) abspielen und bislang nur völlig unzureichend ins Visier genommen werden konnten.

Hämatoonkologie als Wegweiser

Die Fortschritte in der wissenschaftlichen Erklärung der immunologischen und neurodegenerativen Vorgänge bei MS haben in den letzten Jahren die Basis für eine enorme Verbesserung von Diagnostik und Therapie der Erkrankung geschaffen.

Gerade die neueren, hocheffizienten medikamentösen Behandlungsoptionen stammen genuin aber gar nicht aus der Neurologie, sondern vielmehr aus der Hämatoonkologie. Das kommt nicht von ungefähr. Denn zum Beispiel bei Lymphomen sind die pathologisch veränderten und die therapeutisch anvisierten Zielstrukturen nicht nur bekannt, sondern auch identisch. Und das schließt ein, dass sich die Einblicke in die Pathogenese dieser hämatoonkologischen Entitäten direkt in klinisches Vorgehen übersetzen lassen – und auch einen Transfer in die MS-Therapie ermöglichen.

Dies ist mit der Etablierung B-Zell- gerichteter Therapien in der Behandlung der MS bereits erfolgreich umgesetzt worden. So hat das Prinzip der Depletion CD20-positiver B-Zellen, das mit Rituximab in die Lymphom- und Leukämie-Therapie eingeführt wurde, seine Fortsetzung mit Ocrelizumab und Ofatumumab in der MS-Therapie gefunden.

Ähnliches gilt für die B-Zell-reduzierende MS-Behandlung mit Cladribin-Tabletten, deren Wirkstoff als Infusion ebenfalls ursprünglich für bestimmte Lymphome und Leukämieformen erforscht wurde und sich schließlich als erfolgreiche Therapie bewährt hat – sowohl in der Onkologie als auch in der MS-Therapie.

BTK-Inhibition wirken auch hinter der Blut-Hirn-Schranke

Was den neuartigen Ansatz der BTK-Inhibition für eine Anwendung bei MS so attraktiv macht, ist ihre Potenz, auch hinter der Blut-Hirn-Schranke (BHS) Wirksamkeit entfalten zu können. Denn bei den BTKi handelt es sich um kleine Moleküle, für die das dichte Geflecht aus Tight Junctions des Endothels, Astrozyten und Perizyten keine unüberwindbare Barriere darstellt.

Im Unterschied zu den monoklonalen Antikörpern zur B-Zell-Depletion, die aufgrund ihrer Molekülgröße keinen nennenswerten Zutritt zum ZNS haben, können mit BTKi pharmakologisch relevante Konzentrationen jenseits der BHS erreicht werden.

BTK wird nicht nur von B-Zellen sezerniert und entfaltet auch nicht nur bei diesen ihre signalgebende Funktion, sondern auch von einer Reihe weiterer Zellen sowohl in der Peripherie als auch im ZNS. So zählen auch Monozyten, Makrophagen, Mastzellen und Neutrophile zu den BTK-Produzenten und hinter der BHS insbesondere Mikroglia, aber auch Neuronen und Astrozyten, nicht jedoch Oligodendrozyten.

Andererseits ist BTK aufgrund seiner Signalgebung nicht nur in Entwicklung und Funktion der B-Zellen involviert, sondern auch in die Aktivierung von Makrophagen und Mikroglia. Und in diesem Zusammenhang scheint die BTK auch eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung eines proinflammatorischen Milieus zu spielen, indem sie die Kommunikation der beteiligten Immunzellen ausbaut und fördert.

Insofern bietet der Ansatz der BTK-Inhibition eine aussichtsreiche Perspektive, auf verschiedenen Ebenen substanziell in das Autoimmungeschehen bei MS einzugreifen und korrigierend wirksam zu sein.

Fünf Vertreter der BTKi für MS in der Pipeline

Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Kinasen und wegen des Bedarfs für verschiedene Organmanifestationen entsprechend zielgerichtete Substanzen mit differenzierter Wirksamkeit bereitzustellen, wurden in der Hämatologie und Onkologie in den letzten Jahren zahlreiche Tyrosinkinase-Inhibitoren entwickelt, die zu einem guten Teil auch schon für die klinische Anwendung zugelassen sind.

Darunter befinden sich mit Acalabrutinib, Ibrutinib, Tirabrutinib und Zanubrutinib auch vier Vertreter der BTKi. Bei keinem davon wird derzeit eine Anwendung auch bei MS angestrebt.

Hier sind vielmehr nur Kandidaten in der Pipeline, die sich vornehmlich für die MS in Entwicklung und klinischer Prüfung befinden. Diese lauten Evobrutinib, Fenebrutinib, Orelabrutinib, Remibrutinib und Tolebrutinib und durchlaufen derzeit ihre klinischen Studienprogramme der Phase III, bzw. noch der Phase II (Orelabrutinib), bei Patienten mit RMS oder PMS.

Quellen:

Krämer J, Bar-Or A, Turner TJ et al. Bruton tyrosine kinase inhibitors for multiple sclerosis. Nat Rev Neurol 19, 289–304 (2023). www.doi.org/10.1038/s41582-023-00800-7

Dybowski S, Torke S, Weber MS. Targeting B Cells and Microglia in Multiple Sclerosis With Bruton Tyrosine Kinase Inhibitors: A Review. JAMA Neurol. 2023;80(4):404–414. doi:10.1001/jamaneurol.2022.5332

Faissner S, Hoepner R, Gold R. Mikroglia im Kontext der Multiplen Sklerose. Nervenheilkunde 2014; 33: 805–810

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