© Epidemiologisches Bulletin 26/24 Zeitpunkt der Verabreichung von Nirsevimab im 1. Lebensjahr unter Berücksichtigung des Geburtsmonats /Quelle: Epidemiologisches Bulletin 26/24
Neugeborene mit postnatal längerem stationären Aufenthalt sollten Nirsevimab rechtzeitig vor der Entlassung erhalten, wenn der Aufenthalt in die RSV-Saison fällt; eine passive Immunisierung mit Nirsevimab kann auch bereits während des Klinikaufenthalts erwogen werden, wenn dies zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen sinnvoll erscheint. Eine versäumte Nirsevimab-Gabe soll innerhalb der ersten RSV-Saison schnellstmöglich nachgeholt werden.
Prophylaxe-Optionen
Zur medikamentösen Prophylaxe von durch Respiratorische Synzytial-Viren (RSV) verursachte Erkrankungen war in der EU bis Ende 2022 nur der monoklonale RSV-Antikörper Palivizumab zugelassen. Dieser ist bei Kindern mit hohem Risiko für RSV-Erkrankungen indiziert. Wegen seiner kurzen Halbwertszeit von 19 bis 27 Tagen muss er während der RSV-Saison monatlich verabreicht werden.
Im Oktober 2022 hat die EU auf Empfehlung der Europäischen Arzneimittelagentur den monoklonalen Antikörper Nirsevimab (Beyfortus) zur Prävention von RSV-Erkrankungen der unteren Atemwege bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern in ihrer ersten RSV-Saison zugelassen.
Nirsevimab zeichnet sich im Vergleich zu Palivizumab durch eine deutlich verlängerte Halbwertszeit (etwa 69 Tage) aus. Wie Palivizumab hemmt Nirsevimab die Fusion der Virusmembran mit der Membran der Zelle und die Fusion der Zellmembran infizierter Zellen mit deren Nachbarzellen; im Vergleich zu Palivizumab scheint Nirsevimab über eine bessere Kapazität zur Virusneutralisation zu verfügen.
Dann ist laut STIKO keine Impfung nötig
Bei Säuglingen, die bereits eine labordiagnostisch gesicherte RSV-Infektion durchgemacht haben, ist laut STIKO-Empfehlung in der Regel keine Nirsevimab-Prophylaxe erforderlich. Außerdem benötigen gesunde Neugeborene, deren Mütter während der aktuellen Schwangerschaft eine RSV-Impfung erhalten haben, in der Regel keine Nirsevimab-Gabe.
Handelt es sich um Neugeborene mit bekannten Risikofaktoren oder wurde die maternale Impfung in einem Zeitraum von weniger als zwei Wochen vor der Geburt verabreicht, empfiehlt die STIKO zusätzlich eine RSV-Prophylaxe mit Nirsevimab.
Bei Kindern mit bekannten Risikofaktoren kann laut STIKO individuell über die Anwendung von Palivizumab oder Nirsevimab entschieden werden. Eine parallele oder sequenzielle Gabe von Palivizumab und Nirsevimab wird nicht empfohlen. Eine Zulassung für Kinder mit entsprechenden Risikofaktoren für ihre zweite RSV-Saison des Lebens sei vom Hersteller beantragt und werde im Sommer 2024 erwartet.
Nirsevimab wird intramuskulär in den anterolateralen Oberschenkel verabreicht. Die Einmaldosis beträgt bei Neugeborenen bzw. Säuglingen mit einem Körpergewicht: Kleiner 5 kg 50 mg und bei Säuglingen mit einem Körpergewicht größer gleich 5 kg 100 mg. Der Antikörper kann gleichzeitig mit oder in beliebigem Abstand zu den Standardimpfungen des Säuglingsalters verabreicht werden.
“Impfaufklärung muss Unsicherheiten adressieren”
Kommentar von Dr. Wolfgang Schneider-Rathert, Sektionssprecher Prävention der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM)
Die DEGAM sieht wie die STIKO einen erheblichen Vorteil von Nirsevimab statt Palivizumab für Frühgeborene (z.B.< 34. SSW) oder Säuglinge mit kardiopulmonalen Vorerkrankungen. Eine Ausweitung der Indikation von Hochrisikopatienten auf „alle Säuglinge“ ist mit den bisherigen Daten aus unserer Sicht aber mit Unsicherheiten verbunden. Eine rechtskonforme Impfaufklärung muss diese Unsicherheiten aus unserer Sicht adressieren!
Die Vorteile einer Impfung mit Nirsevimab aus hausärztlicher Sicht sind:
Einmalige Gabe von Nirsevimab statt mehrfache Impfungen mit Palivizumab
Ca. 4 von 5 symptomatischen Erkrankungen, Krankenhauseinweisungen und Intensivstationsaufenthalten können verhindert werden (relative Risikoreduktion ca. 80 Prozent)
Es gibt für Nirsevimab auch Daten für gesunde Säuglinge ohne Risikofaktoren
Folgende Fragen sind aus hausärztlicher Sicht noch offen:
Die vorliegenden Studiendaten reichen zahlenmäßig noch nicht aus, um seltene Impfnebenwirkungen erkennen zu können. Die Beobachtungszeiträume sind zu kurz, um die Langzeitfolgen dieser sehr früh nach der Geburt verabreichten Impfung abschließend einschätzen zu können.
Es ist insbesondere aus den deutschen Daten aus DEGAM-Sicht nicht ausreichend ersichtlich, wie groß der Anteil von Säuglingen ohne Risikofaktoren an den schweren RSV-Verläufen ist (in Deutschland ca. 500-1.000 Kinder wegen RSV-Infektion auf Intensivstation jährlich, davon leider 1-6 tödlich).
Aus DEGAM-Sicht ist deshalb das Verhältnis von Nutzen, Risiko und Kosten der erheblichen Ausweitung der Impfempfehlung auf alle Säuglinge nicht abschließend erforscht. Bei den aktuellen Preisen von rund 1.350 Euro je Impfung entstünden zusätzliche Impfkosten von bis zu zwei Milliarden Euro jährlich.
Warum alle Kinder immunisieren?
RSV-Infektionen sind weltweit die häufigste Ursache von Erkrankungen der unteren Atemwege bei Neugeborenen und Säuglingen. Besonders hoch ist die RSV-Krankheitslast in den ersten sechs Lebensmonaten.
Laut den Ergebnissen einer prospektiven multizentrischen Beobachtungsstudie, die in Europa noch vor Beginn der Covid-19-Pandemie durchgeführt wurde, beträgt die Inzidenz der RSV-assoziierten Hospitalisierung bei gesunden Säuglingen in ihrem ersten Lebensjahr 1,8 Prozent.
Kinder mit Risikofaktoren für schwere RSV-Krankheitsverläufe (zum Beispiel Frühgeburtlichkeit, angeborene Herzfehler, chronische Lungenkrankheiten) stellen zwar einen Anteil von circa 20 Prozent der schwer verlaufenden RSV-Fälle, circa 80 Prozent dieser Infektionen treten aber bei zuvor gesunden Säuglingen auf.
“Damit sind sie mengenmäßig einfach der größere Anteil der Kinder, die wir in den Kinderkliniken sehen und behandeln”, sagt Tabatabai. Die neue Empfehlung bezweckt vor allem, RSV-bedingte Hospitalisierungen, intensivmedizinische Behandlungen und RSV-bedingte Todesfälle sowie stationäre und ambulante Versorgungsengpässe zu verhindern.
Wie sicher ist Nirsevimab?
“Wie bei allen Injektionen können Rötungen, Schwellungen und Schmerzen im Bereich der Injektionsstelle auftreten”, sagt Tabatabai. Ansonsten sei das Arzneimittel als sehr sicher eingestuft worden. In der STIKO-Empfehlung heißt es, dass Nirsevimab auf Basis der Ergebnisse aus mehreren randomisiert-kontrollierten Studien gut verträglich, sicher und wirksam ist.
Der Schutz der passiven Immunisierung gegenüber der Verhinderung von sehr schwer verlaufenden RSV-assoziierten unteren Atemwegsinfektionen beträgt demnach 81 Prozent und hält mit einer Schutzdauer von mindestens sechs Monaten annehmbar über die gesamte RSV-Saison an.
Weitere Möglichkeit zur Prävention
Eine weitere Möglichkeit zur Prävention von RSV-Erkrankungen bei Neugeborenen und Säuglingen ist die maternale Impfung während der Schwangerschaft, die zur aktiven diaplazentaren Übertragung der durch die Impfung induzierten Antikörper auf das Kind führt. Ein bivalenter Proteinimpfstoff (Abrysvo) zur Impfung von Schwangeren in der 24. bis 36. Schwangerschaftswoche erhielt im August 2023 die Zulassung in der EU.
Derzeit liegt laut Tabatabai noch zu wenig Evidenz vor, um eine klare Empfehlung für diese Impfung zu geben. In der Sicherheitsevaluation habe sich ein Ungleichgewicht beim Auftreten von Frühgeburten zwischen der Verum- und der Kontrollgruppe gezeigt; insgesamt sei die Studienpopulation aber zu klein, um dies sicher beurteilen zu können.
Quellen:
1. Epidemiologisches Bulletin 26/24 ;
2. Press Briefing „Empfehlung der Ständigen Impfkommission zur RSV-Immunisierung“, 26.6.2 024