InterviewSturzprävention bei Senioren: Wie gelingt‘s?

Dem Hausarzt kommt bei der Prävention von Stürzen älterer Patienten eine wichtige Rolle zu. Worin diese besteht und was der Hausarzt tun kann, um Risikopatienten frühzeitig zu erkennen, erklärt Prof. Clemens Becker vom Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart.

Wie häufig sind Stürze im häuslichenBereich und welche Folgen haben sie?

Becker: Momentan sind hierzulande etwa 20 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt und man kann davon ausgehen, dass ungefähr ein Drittel mindestens einmal und jeder sechste mehrfach pro Jahr stürzt. Das summiert sich auf rund sechs bis sieben Millionen Stürze jährlich.

Eine sturzbedingte Fraktur mit Krankenhauseinweisung erleiden jährlich rund 450.000 ältere Menschen. Außerdem werden aufgrund von Stürzen etwa 1,3 Millionen Kontakte in den Notaufnahmen registriert, wobei es sich nicht immer um Frakturen handelt.

Dies alleine wäre schon Grund genug, sich darüber Gedanken zu machen, aber die Stürze haben zudem oft schwerwiegende Folgen. Einerseits für die Gestürzten selbst, die dadurch häufig ihre Mobilität und Selbstständigkeit verlieren, andererseits hinsichtlich der hohen sozioökonomischen Kosten, die ein Sturz nach sich ziehen kann.

Was kann der Hausarzt dazu beitragen, Stürze zu vermeiden?

Ab einem Alter von 70 Jahren sollte der Hausarzt einmal im Jahr proaktiv nachfragen, ob die Patienten ihrer Einschätzung nach inzwischen schlechter gehen können. Außerdem sollte er sich nach möglichen Stürzen im letzten Jahr erkundigen und herausfinden, ob die Patienten – auch ohne Sturzanamnese – große Angst vor einem Sturz haben.

Denn diese Angst kann einen Teufelskreis in Gang setzen: Sind die Menschen aufgrund zunehmender Ängstlichkeit weniger körperlich aktiv, kommt es zu einer Abwärtsspirale hinsichtlich ihrer Kraft und Mobilität. Führt die Angst dazu, dass sie sich verkrampfen, erhöht sich das Risiko für einen Sturz zusätzlich.

Wie sollte man vorgehen?

Das Ziel besteht darin, Patienten mit angehender Gangunsicherheit frühzeitig zu erkennen und zu unterstützen. Optimal ist es, wenn einmal im Jahr ein kurzes Gangvideo aufgenommen wird, anhand dessen sich der Verlauf feststellen lässt.

In der hausärztlichen Praxis kann – abhängig von den Platzverhältnissen – auch ein einfacher Test wie der “Timed Up-and-Go” durchgeführt werden, um die funktionale Mobilität und das Sturzrisiko zu ermitteln. Dafür ist nur ein Stuhl und eine markierte Gehstrecke von drei Metern erforderlich.

Der Patient steht auf, geht die drei Meter, dreht sich um, läuft zurück und setzt sich wieder. Werden dafür mehr als 13 Sekunden benötigt, profitiert der Patient sehr wahrscheinlich von einem Übungsprogramm.

Aus welchen Elementen sollte sich das Übungsprogramm zusammensetzen?

Das wichtigste Element ist das progressive Balancetraining, welche die statische und insbesondere die dynamische Balance verbessert. Ein Klassiker ist etwa, zu lernen, auf einem Bein die Zähne zu putzen. Idealerweise kommen noch Übungen zur Verbesserung von Kraft und Koordination dazu.

Im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe gibt es eine ganze Reihe an progressiven Übungen, die unter Anleitung erlernt werden können. Wichtig ist, dass der Patient auch zu Hause regelmäßig übt, denn ein einmal wöchentliches Training reicht nicht aus, um die Funktion zu verbessern.

Geeignet sind alle Programme, die von der “Zentralen Prüfstelle Prävention” zertifiziert wurden, dazu gehören zum Beispiel die Programme des Deutschen Turnerbundes oder das Programm “Trittsicher durchs Leben”. Diese Programme werden von der gesetzlichen Krankenkasse bezuschusst. Ein evidenzbasiertes, validiertes, vollständig digitalisiertes Übungsprogramm gibt es derzeit noch nicht.

Welche Patienten kommen für ein Gruppentraining in Frage und für wen ist ein Einzeltraining indiziert?

Gruppenprogramme stellen quasi den Königsweg dar, sie werden zu über 80 Prozent von weiblichen Teilnehmenden besucht – vielleicht weil Frauen häufiger von Stürzen oder Frakturen aufgrund von Osteoporose betroffen sind. Männer sind seltener bereit, ein Gruppentraining aufzusuchen, für sie kommen eher aufsuchende Programme wie etwa die Physiotherapie zu Hause in Frage.

Diese Maßnahmen sollten jedoch auch aus Kostengründen für Patienten reserviert sein, die ihr Wohnumfeld nicht verlassen können oder für die vor Ort keine Übungsgruppe zur Verfügung steht. Sinnvoll sind sie beispielsweise für Parkinson-Patienten mit großer Sturzneigung.

Wie häufig und wie lange sollten die Patienten trainieren?

Etwa sechs bis zehn Besuche bei einem Trainer oder Therapeuten reichen aus, um den Patienten die Grundlagen des Programms zu vermitteln. Schaffen es die Patienten, über sechs Monate regelmäßig zu üben, kann man davon ausgehen, dass sie das Training erfolgreich in ihren Alltag integriert haben und weiterhin dabei bleiben.

Unter einer guten Begleitung gelingt dies mindestens der Hälfte der Teilnehmenden. Eine Übungs-Session nimmt rund 45 Minuten in Anspruch. Ein gut durchgeführtes Programm kann die Sturzrate um 25 bis 30 Prozent verringern.

Haben Sie einen Tipp, wie sich ältere Patienten zur Teilnahme motivieren lassen?

Man sollte die Menschen keinesfalls über das Thema “Sturz” ansprechen, denn das wirkt eher abschreckend, weil es angstbesetzt und sozial stigmatisierend ist. Für die Betroffenen ist vielmehr die Verbesserung oder der Erhalt der Selbstständigkeit entscheidend.

Folglich eignet sich ein ressourcenorientierter Ansatz, bei dem die Betonung auf einer Verbesserung der Balance und der Kraft liegt. Für die Patienten bedeutet es eine enorme Motivation, wenn der Hausarzt sagt: “Die Übungen werden ihnen gut tun, machen sie das”. Hier sehe ich die Hausärzte in der Verantwortung.

Vielen Dank für das Gespräch.

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