Experten InterviewCannabis: “Auf dem Weg in die allgemeine Versorgung”

Das Cannabis-Gesetz von 2017 ermöglichte erstmals den Einsatz von Cannabis für medizinische Zwecke. Im Expertengespräch erläutert Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl, Hannover, was dabei zu beachten ist.

Prof. Dr. med. Kirsten Müller-Vahl ist Neurologin und Psychiaterin an der Medizinischen Hochschule Hannover und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft “Cannabis als Medizin”

In welchen Indikationen werden Cannabis-Medikamente derzeit angewendet?

Müller-Vahl: Zu den etablierten Anwendungsgebieten gehören mittelschwere und schwere Spastik bei Erwachsenen mit MS, Übelkeit und Erbrechen unter Chemotherapie, Anorexie bei AIDS und anderen konsumierenden Erkrankungen sowie – für den CBD-Extrakt Epidyolex® – bestimmte Epilepsieformen. Wir wenden Cannabis ferner gegen verschiedene chronische Schmerzformen an, insbesondere neuropathische Schmerzen. Hinweise auf einen Nutzen liegen darüber hinaus für das Tourette-Syndrom vor sowie für ADHS, Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen, aber auch eine Vielzahl anderer Erkrankungen. Leider gibt es nur sehr wenig Forschung zu Cannabis-Medikamenten, was hauptsächlich daran liegt, dass solche Studien sehr teuer sind, aber mangels Patentierbarkeit von Cannabis-Blüten keine Gewinnaussichten damit verbunden sind.

Welche Cannabis-Produkte gibt es derzeit?

Neben drei Fertigarzneimitteln (siehe Kasten), reinem THC (Dronabinol) und einer Reihe von Vollspektrum-Extrakten sind in Apotheken rund 80 Cannabis-Blütensorten im Handel, davon derzeit etwa 40 lieferbar. Die meisten Blüten sind THC-dominant, ein Teil enthält THC und CBD im Verhältnis von etwa eins zu eins. Daneben gibt es auch CBD-dominante Blüten mit sehr wenig THC.

Welche Rolle spielt der Gehalt an THC und CBD für die Wirkung von Cannabis?

Es wird allgemein vermutet, dass die Effekte wesentlich von diesen beiden Stoffen bestimmt werden. Welche Rolle darüber hinaus anderen Inhaltsstoffen zukommt wie weiteren Cannabinoiden, Terpenen und Flavonoiden, ist wenig erforscht. Es wird ein sogenannter Entourage-Effekt postuliert, wonach THC besser wirksam und verträglich sein könnte, wenn es in Kombination mit den anderen Stoffen der Cannabis-Pflanzen vorliegt.

Welche Blütenarten werden für welche Indikationen eingesetzt?

Diese Frage kann derzeit niemand beantworten. Um hier Trends zu erkennen, haben wir versucht, mithilfe von Daten über die Verordnung von Cannabis-Blüten und einer Online-Befragung herauszufinden, welche Blüten die Patienten für welche Erkrankung bekommen haben und ob es Blüten gibt, die bei ihnen besonders gut wirksam und verträglich sind. Aus den Ergebnissen ließen sich aber keine eindeutigen Trends ableiten.

Wie verordnet man Cannabis-Medikamente?

Es muss ein BtM-Rezept ausgestellt werden, auf dem der Name der Blütensorte bzw. des Vollextrakts oder Fertigarzneimittels exakt angegeben wird. Die Apotheke darf dann zum Beispiel nur diese Blütenart und nicht etwa ersatzweise eine vergleichbare abgeben. Das Fertigarzneimittel Epidyolex® und CBD als Rezepturarzneimittel sind hingegen nicht BtM-pflichtig.

Wann übernimmt die GKV die Kosten für die Anwendung?

Das ist im Cannabis-Gesetz von 2017 festgelegt: Wenn eine schwere Erkrankung vorliegt, bei der eine allgemein anerkannte Behandlung nicht verfügbar bzw. nicht anwendbar ist und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Wirkung besteht, kann ein Antrag gemäß SGB V auf Kostenübernahme gestellt werden. Die Kasse darf die Kostenübernahme dann nur in begründeten Ausnahmefällen ablehnen. Wenn die Patienten die Kosten selbst tragen wollen/können, kann eine Privatverordnung erfolgen, wenn sie betäubungsmittelrechtlich indiziert ist.

Welchen Anteil hat die hausärztliche Versorgung bei der Verordnung von Cannabis-Präparaten?

Es gibt inzwischen eine Reihe von Hausärzten, die sich daran beteiligen. Manche Kollegen schicken ihre Patienten aber auch erst zu Spezialisten oder zum Beispiel zu uns in die Tourette-Sprechstunde, um unter anderem die zeitaufwendige Kostenübernahme klären zu lassen. Danach übernehmen sie selbst die weitere Verordnung.

Welche Kontraindikationen und Nebenwirkungen müssen beachtet werden?

Hauptnebenwirkungen von Cannabis-Medikamenten mit THC sind Schwindel, Müdigkeit und Benommenheit. Deswegen ist es besonders wichtig, mit einer niedrigen Dosis zu beginnen und langsam zu steigern. Beachtet man dies, werden die Medikamente in der Regel gut vertragen. Einzige harte Kontraindika-tion ist eine akute Psychose. Sehr vorsichtig sollte man sein, wenn eine Psychose in der Vorgeschichte bestand oder jemand im engeren Familienkreis eine solche Erkrankung hat.

Wie steht es mit dem Autofahren?

Für den Freizeitkonsum von Cannabis gilt, dass man damit nicht ans Steuer darf. Mit dem Cannabis-Gesetz von 2017 wurde leider versäumt, das Autofahren unter Cannabis-Medikamenten zu regeln. Tatsächlich sind schon Patienten ohne Anlass in eine Kontrolle geraten und mussten den Führerschein abgeben. Auf jeden Fall muss man den Patienten sagen, dass Cannabis-Medikamente die Fahrsicherheit beeinträchtigen können, vor allem in der Eindosierungsphase und nach Dosissteigerungen. Aber schließlich müssen wir alle vor Fahrtantritt prüfen, ob wir uns fahrtüchtig fühlen, und dürfen mit Schwindel oder Unwohlsein nicht ans Steuer.

Ihre Botschaft an die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen?

Die meisten Dinge erweisen sich als einfacher, wenn man erst einmal damit begonnen hat. Der erste Schritt bzw. der erste Patient, den man mit Cannabis behandeln will, ist der schwierigste. Man muss es sich nur einfach mal trauen. Vorher sollte man eine Fortbildung zu dem Thema besuchen. Im Übrigen sehe ich Cannabis-Produkte wie alle anderen Medikamente und bin sicher, dass sie ihren Sonderstatus verlieren und im Lauf der kommende Jahre Eingang in das Spektrum der allgemeinen Versorgung finden werden.

Vielen Dank für das Gespräch. Das Gespräch führte Dr. med. Ulrich Scharmer.

Cannabis-Arzneimittel im Überblick

Fertigarzneimittel

Sativex® (Nabiximols) enthält THC und CBD zu etwa gleichen Anteilen. Es liegt als Mundspray vor und ist für erwachsene MS-Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik zugelassen, die nicht auf eine andere antispastische Arzneimitteltherapie angesprochen haben (BtM).

Canemes® liegt in Kapseln mit dem vollsynthetischen THC-Derivat Nabilon vor. Es ist zugelassen für die Behandlung von chemotherapiebedingter Übelkeit und Erbrechen bei Krebspatienten, die auf andere Behandlungen nicht angesprochen haben (BtM).

Epidyolex® ist eine Lösung zum Einnehmen, die reines CBD enthält, und bei Kindern ab 2 Jahren, zusammen mit Clobazam, für die Behandlung von Krampfanfällen bei Lennox-Gastaut-Syndrom, Dravet-Syndrom und Tuberöser Sklerose eingesetzt wird (kein BtM).

Blüten

Etwa 80 verschiedene getrocknete Cannabis-Blütensorten sind derzeit erhältlich, von denen ca. die Hälfte lieferbar ist. Cannabisblüten unterliegen – unabhängig vom THC-Gehalt – stets der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV).

Vollspektrum-Extrakte

Es handelt sich um ölige Lösungen zur Herstellung von Rezepturarzneimitteln in der Apotheke (BtM). Vollspektrum-Extrakte sind in unterschiedlichen Zusammensetzungen bezogen auf den Gehalt an THC und CBD verfügbar, enthalten aber das ganze Spektrum der Inhaltsstoffe wie Terpene und Flavonoide.

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