Medizinhistorische SchlaglichterEssentia Dulcis – Allheilmittel mit Wunderkräften?

Die historische Goldarznei Essentia Dulcis war wohl so etwas wie ein Allheilmittel: Neben der physischen Gesundheit sollte die alchemische Tinktur aus Halle auch die menschliche Seele stärken. Die Einnahmen aus dem Verkauf kamen sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu Gute. Eine Forscherin der Franckeschen Stiftungen versucht nun herauszufinden, was es mit der vermeintlichen Wundermedizin auf sich hat.

Junger Mann bei der Laborarbeit, Radierung von Thomas Major nach einem Gemälde von David Teniers d. J., 1755.

Als alchemische Goldarznei wurde die Essentia Dulcis im 18. Jahrhundert in Halle hergestellt. Bei der Bevölkerung genoss sie einen sehr guten Ruf, denn der Tinktur wurde eine hohe Wirkkraft aus den verschiedensten Anwendungsgebieten nachgesagt.

Viele Menschen waren bereit, jede Menge Geld dafür zu bezahlen. Schließlich wurde in der Alchemie Gold als das reinste und wirkmächtigste Metall angesehen. Die damals naheliegende logische Schlussfolgerung: Goldarzneimittel seien demnach besonders heilkräftig.

Hinzu kam: In der Essentia Dulcis sollte entsprechend der paracelsischen Arzneitradition nur der reine “wirksame Geist” des Goldes enthalten sein und somit nichts, was das Trinkgold verunreinigen hätte können. Das Indikationsspektrum war umfangreich; die Essentia Dulcis wurde verschrieben bei verschiedenen Fieberarten, Husten, Schwindsucht, Schmerzen, Entzündungen, Schwindel, Durchfall und vielem mehr.

Bei einem Medikament mit einem vermeintlich derart breitem Indikationsspektrum, ließ der finanzielle Erfolg nicht lange auf sich warten.

Geld verdienen – und Gutes tun

Die Geschichte der Essentia Dulcis ist eng geknüpft an die Geschichte des sogenannten Halleschen Waisenhauses – den heutigen Franckeschen Stiftungen zu Halle. Das Waisenhaus war eine visionäre Einrichtung, vielmehr als ein bloßer Unterbringungsort für Kinder ohne Eltern.

Hier wurde derart Wert auf Bildung gelegt, dass sich der gute Ruf der dort ansässigen Armenschule schnell herumsprach. Bald schickten auch wohlhabende Eltern aus dem Bürgertum ihre Kinder dorthin und eine weitere Schule entstand auf dem Gelände.

Unterrichtet wurden die Jungen und Mädchen von Studenten. Sie erhielten als Gegenleistung einen kleinen Lohn, eine Wohnung und Feuerholz. Im Jahr 1707 wurden in den Schulen des Waisenhauses insgesamt bereits mehr als 1.000 Schüler und Schülerinnen unterrichtet und um 1730 lebten, lernten und arbeiteten etwa 3.000 Menschen in den Anstalten.

Vor allem dem Arzneimittelhandel ist es zu verdanken, dass diese ernährt, untergebracht und gut mit Medikamenten versorgt waren. Denn das Hallesche Waisenhaus verfügte auch über eine hauseigene Apotheke. Dort wurde die Essentia Dulcis hergestellt und verkauft. Die Waisenhaus-Medikamente genossen in der Bevölkerung großes Vertrauen.

Damalige Patientinnen und Patienten vertrauten darauf, dass keine Verunreinigungen enthalten sein würden und auf qualitativ hochwertige Ausgangsmaterialien zurückgegriffen wurde. Obwohl eine große Menge an Arzneien im Geiste einer gelebten Sozialfürsorge gratis an Bedürftige abgegeben wurde, war der Erlös aus den Arzneimittelverkäufen so groß, dass dieser wesentlich dazu betrug, die Anstalt mit all ihren Einrichtungen zu finanzieren – und z.B. eine Buchhandlung sowie eine Buchdruckerei und einen Verlag aufzubauen.

Erster Apothekenversandhandel der Welt

Neben dem Vor-Ort-Verkauf spülte der Versandhandel, den die Waisenhaus-Apotheke mit der sogenannten “Medikamenten-Expedition” aufgebaut hatte, immer mehr Geld in die wohltätige Einrichtung.

Die Essentia Dulcis und andere Waisenhaus-Medikamente wurden innerhalb der deutschen Territorien verschickt und auch in andere Länder und Gebiete innerhalb Europas und der Welt, wie z. B. Russland und Nordamerika – gemeinsam mit gedruckten Schriften, die Beipackzettel, Werbe- und Infomaterial in einem waren.

Der Handel und Versand von Arzneien blühte und finanzierte auch eine Armensprechstunde am Halleschen Waisenhaus. Hier wurden Bedürftige unentgeltlich medizinisch behandelt und mit Medikamenten versorgt.

“Der Erfolg der Essentia Dulcis und der Waisenhaus-Arzneimittel insgesamt war enorm. Sie hatten einen so großen Wirkradius, dass man in Bezug auf die Medikamenten-Expedition des Halleschen Waisenhauses ohne Übertreibung innerhalb der damaligen Verhältnisse von einem pharmazeutischen Großunternehmen mit ausgefeilter Versandhandelsstruktur sprechen kann.

Das war in dieser Form für das 18. Jahrhundert absolut einzigartig”, analysiert Claudia Weiß von der Stabstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen. Sie plant zu dieser, lange als Wundermittel gepriesenen, Goldarznei und zu anderen alchemischen Medikamenten der Waisenhaus-Apotheke derzeit ein Forschungsprojekt und eine Promotion.

Alchemischen Geheimnissen auf der Spur

Die Verbindung zwischen der Alchemie und der speziellen christlichen Religiosität, die es im 18. Jahrhundert am Halleschen Waisenhaus gab, haben es Claudia Weiß angetan: “Die alchemischen Medikamente begleitet etwas Geheimnisvolles”, sagt die 37-Jährige. “Gerade ihre Herkunft aus der alchemischen Arzneitradition macht die Essentia Dulcis für uns heute noch besonders spannend.

Dachte man sich damals, dass sie in ihrer Heilwirkung sogar dem legendären Stein der Weisen aus der Alchemie nahekommen sollte? Den hielt man nämlich auch für ein Universalheilmittel.” Die Vorstellung, dass es ein Allheilmittel geben könnte, findet Claudia Weiß interessant, wenngleich Pharmazie und Medizin, durch die Jahrhunderte erst einmal wieder davon abgekommen seien.

Mit der Forschung zur Essentia Dulcis und zur Pharmaziegeschichte des Halleschen Waisenhaus im 18. Jahrhundert verbindet Claudia Weiß zwei Bereiche ihrer Ausbildung miteinander, die auf dem ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben: Sie ist approbierte Apothekerin und hat zudem Kulturwissenschaften mit besonderem Fokus auf der Geschichte der Frühen Neuzeit studiert.

Mit ihren Forschungen möchte Claudia Weiß der medizinisch-pharmazeutischen Vorstellungswelt der Menschen im 18. Jahrhundert nachspüren: War sie wirklich so verschieden von unserer heutigen? Was für Unterschiede, aber auch was für Gemeinsamkeiten gibt es hinsichtlich der Ansichten zu Gesundheit, Krankheit, Heilung und dem Verhältnis zwischen Körper, Seele und Geist? “Mein Blick zielt dabei auf die Pharmazie am Halleschen Waisenhaus im 18. Jahrhundert.

Ich frage mich, ob es hier zu spezifischen eigenen Pharmaziekonzepten gekommen ist, die mit der dortigen institutionellen Situation in puncto Religiosität und praktischer Anstaltsversorgung zusammenhingen”, erzählt Claudia Weiß.

Was über die Wirkung bekannt ist

Doch: Hat das alchemische “Aspirin” des 18. Jahrhunderts, wie Claudia Weiß die Essentia Dulcis kürzlich bei einem Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe “Medizin und Gesellschaft” an den Franckeschen Stiftungen scherzhaft genannt hat, überhaupt gewirkt?

Mehrere Schriften aus dem 18. Jahrhundert berichten über Heilerfolge und belegen positive Fallberichte von Patienten oder Patientinnen. Da die Arznei im Laufe der Jahre vom Markt verschwunden ist und heute weder verschrieben noch hergestellt wird, fällt es gegenwärtig schwer zu beurteilen, ob und wie gut die Essentia Dulcis tatsächlich gewirkt hat.

Generell gibt es nur wenige zuverlässige pharmazeutische Studien zu dieser Art von Goldarzneien. Fachleute halten es durchaus für möglich, dass die positiven Fallbeispiele, die die Wirkung der Goldtinktur belegen, teilweise auf einen Placebo-Effekt zurückgeführt werden können.

Der sehr gute Ruf der sogenannten Waisenhaus-Apotheke dürfte den Glauben der Patientinnen und Patienten an das Arzneimittel bestärkt haben und könnte einen positiven Effekt bei der Behandlung verursacht haben.

Vereinzelt werden noch heute auf Gold basierende medizinische Präparate verschrieben. Sie werden bei Autoimmunkrankheiten wie Rheuma eingesetzt, können jedoch in der Therapie teilweise zu starken Nebenwirkungen führen.

Historische Belege, die Claudia Weiß in den Archiven der Franckeschen Stiftungen gesichtet hat, bescheinigen der Essentia Dulcis eine hohe Wirkkraft und betonen, dass im Zuge der Einnahme kaum Nebenwirkungen auftreten. “In der damals angenommenen außerordentlichen Wirkkraft und arzneilichen Bedeutung liegt der finanzielle Erfolg begründet”, sagt Claudia Weiß.

Aufwändige Herstellung

Anders als Bezeichnungen wie “Goldtinktur” oder “Trinkgold” vermuten lassen, war die Essentia Dulcis nicht golden, sondern rötlich gefärbt. Die Rezeptur dafür hat der Arzt und Pharmazeut Christian Friedrich Richter Anfang des 18. Jahrhunderts wenige Jahre vor seinem Tod auf Grundlage alchemischer Manuskripte entwickelt.

Diese wurden dem Halleschen Waisenhaus im Jahr 1700 geschenkt. Daraus geht hervor, dass es sich bei der Tinktur um ein Goldkolloid aus feinstverteilten Goldpartikeln in Branntwein handelte. Wiederholte Destillationen im Laboratorium und viele aufwändige Herstellungsschritte waren nötig, um die Tinktur zu erzeugen.

Die Partikelgrößen des Goldes lagen dabei vermutlich im Nanometerbereich. Ein sogenanntes Aufschließungsmittel – verwendet wurde Kampfer – sollte den Wesenskern des Goldes, d. h. seinen “reinen Geist” freilegen. Die Idee dahinter: die im Gold enthaltene spirituelle und religiöse Kraft arzneilich zu nutzen. “Die Essentia Dulcis sollte die Seele stärken und dadurch wiederum auch den Körper heilen”, erklärt Claudia Weiß.

“Ich könnte mir vorstellen, die Essentia Dulcis zu probieren…”

Heute wird die Essentia Dulcis nicht mehr hergestellt. Nachahmerprodukte und Neuerungen auf dem Gebiet der Medizin und Pharmazie ließen das einst so begehrte Medikament mehr und mehr in Vergessenheit geraten. “Die Essentia Dulcis beruhte auf pharmazeutischen Vorstellungen bezüglich ihrer Beschaffenheit und Wirkung, die in der heutigen Schulmedizin nicht mehr aktuell sind”, erläutert Claudia Weiß das leise Verschwinden der einst so hoch gelobten Goldtinktur.

Ob Claudia Weiß die Essentia Dulcis selbst einnehmen würde? “Durchaus”, sagt sie, “ich könnte mir vorstellen, die Essentia Dulcis des 18. Jahrhunderts zu probieren, da ich sie für eine sichere, also nicht schädliche Arzneizubereitung halte.

Bei ihrer Herstellung wurde sehr darauf geachtet, dass keine Verunreinigungen in das Präparat gelangten.” Von ihrer Heilwirkung würde sich Claudia Weiß jedoch weniger versprechen: “Mir ginge es wohl eher um eine einmalige Einnahme aus Neugier, wie die Essentia Dulcis genau geschmeckt hat, wobei der Branntweingeschmack aller Voraussicht nach wohl dominieren würde.” Im Krankheitsfall würde sie jedoch lieber auf unsere heutigen bewährten Arzneimittel zurückgreifen.

Katalog zur Ausstellung

Heilen an Leib und Seele

Medizin und Hygiene im 18. Jahrhundert.

  • Hrsg. im Auftrag der Franckeschen Stiftungen von Holger Zaunstöck und Thomas Grunewald. Halle 2021 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 38).
  • 328 S., 213 Abb., 6 Diagramme
  • € 28,00
  • ISBN 978-3-447-11587-2

Darin enthalten ein Aufsatz von Claudia Weiß mit dem Titel: “[V]on der löblichen Kunst Alchymia”. Alchemistische Pharmazie am Halleschen Waisenhaus im 18. Jahrhundert.

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