Aus Wissenschaft und ForschungHA 15/23: Die DEGAM informiert

Auf diesen Seiten stellt die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) neueste medizinische Erkenntnisse vor, die für den Praxisalltag der Hausärztinnen und Hausärzte relevant sind.

Was tut sich in Wissenschaft und Forschung?

Gezielte Suizidprävention – wer ist gefährdet?

Im Rahmen einer möglichen neuen Gesetzgebung zum assistierten Suizid soll Suizidprävention stärker gefördert und priorisiert werden. Besonders gefährdet, einen Suizid zu begehen, sind Männer im mittleren Alter. In Großbritannien werden daher gezielt Präventionsansätze für diese Patientengruppe untersucht.

Aktuell analysierten Wissenschaftler in einer landesweiten Fallserie, welche Männer sich in den drei Monaten vor ihrem Suizid hausärztlich vorstellten, um zu erfassen, welche präventiven Ansätze sinnvoll sein könnten.

Dazu erhoben sie zu allen dokumentierten Suiziden bei Männern zwischen 40 und 54 Jahren aus dem Jahr 2017 Daten aus verschiedenen Quellen: Neben Polizeiakten und Gerichtsakten berücksichtigten sie auch Unterlagen der NCISH (National Confidential Inquiry into Suicide and Safety in Mental Health; Untersuchung aller Suizide bei Personen, die im Jahr davor Kontakt zu Mental Health Services des National Health Service hatten).

Männer, die sich in den drei Monaten vor dem Suizid hausärztlich vorgestellt hatten, wurden mit denen verglichen, die dies nicht taten. Es wurden Daten vom 1.516 Männern zwischen 40 und 54 Jahren ausgewertet – dies entsprach 25 Prozent aller Suizide in der Bevölkerung im Jahreszeitraum.

43 Prozent dieser Männer hatten in den drei Monaten vor dem Suizid einen oder mehrere hausärztliche Kontakte. Ein Drittel dieser Männer war arbeitslos, 63 Prozent waren Single, verwitwet, getrennt oder geschieden. Die Wahrscheinlichkeit für eine hausärztliche Vorstellung war höher, wenn vorausgehend bereits Suizidgedanken oder Selbstverletzungen bestanden.

Ungefähr die Hälfte stellte sich wegen eines psychischen Problems vor, auch arbeitsplatzbezogene Probleme waren häufig.

Um die Aussagekraft der Untersuchung zu verbessern, wurden Betroffene, die bereits einen Suizidversuch erlebt hatten, partizipativ in die Auswertung einbezogen. Die Autorinnen und Autoren empfehlen, Männer mittleren Alters, die sich mit psychischen oder arbeitsplatzbezogenen Problemen vorstellen, zur psychischen Gesundheit zu beraten, ggf. an Hilfsangebote (Psychotherapien, Gesprächsangebote, Selbsthilfe, digitale Unterstützung) zu vermitteln und das Suizidrisiko abzuklären.

Fazit: Suizide sind in der hausärztlichen Praxis insgesamt selten, daher ist das Erkennen gefährdeter Patienten schwierig. Männer im mittleren Alter haben das höchste Suizidrisiko und werden häufig in den Monaten vor dem Suizid hausärztlich behandelt. Vorstellungen wegen psychischer oder arbeitsplatzbezogener Probleme können ein Anlass sein, eine mögliche Gefährdung abzuklären.

Mughal F, Bojanić L, Rodway C et al.; Recent GP consultation before death by suicide in middle-aged men: a national consecutive case series study; Br J Gen Pract 2023; doi: 10.3399/BJGP.2022.0589

Nur müde oder doch malignomverdächtig?

In Großbritannien ist der Zugang zur spezialisierten Versorgung begrenzt. Um Krebserkrankungen dennoch rechtzeitig zu erkennen, untersuchen viele Studien, wer dringend eine Abklärung benötigt. Der National Health Service (NHS) empfiehlt eine dringliche Abklärung, wenn die Wahrscheinlichkeit für eine Krebserkrankung höher als drei Prozent ist.

Diese Studien sind auch in unserem Gesundheitssystem hilfreich, um gezielt eine zügige Abklärung zu vermitteln. Fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung beklagen Müdigkeit. Ohne zusätzliche Warnzeichen ist das Risiko für unentdeckten Krebs gering.

Während typische Alarmsymptome wie Blut im Stuhl eine klare Indikation zur Abklärung sind, sind zusätzliche unspezifische Symptome schwerer einzuschätzen. Im Rahmen einer Kohortenstudie wurden daher Daten aus der CPRD-Datenbank (Clinical Practice Research Datalink) zu Patienten zwischen 30 und 99 Jahren, für die das Symptom Müdigkeit neu dokumentiert wurde, mit den Daten des nationalen Krebsregisters (NCRAS) verknüpft.

Dabei berechneten die Forschenden die Auswirkungen von 19 zusätzlichen unspezifischen Symptomen auf das Auftreten von Krebserkrankungen in den folgenden neun Monaten. Von 2007 bis 2015 identifizierten sie circa 285.000 Personen mit neu aufgetretener Müdigkeit, davon hatten 10.000 Alarmsymptome, 35.000 zusätzlich Anämie und 90.000 zusätzliche andere unspezifische Symptome.

Die häufigsten Zusatzsymptome waren muskuloskelettale Schmerzen, Husten und Rückenschmerzen. Eine Krebswahrscheinlichkeit von mehr als drei Prozent ergab sich für Frauen mit Müdigkeit und Anämie ab einem Alter von 62, für Männer in dieser Konstellation ab 57 Jahren.

Eine mehr als dreiprozentige Malignomwahrscheinlichkeit hatten auch Männer mit Gewichtsverlust ab 59 Jahren, mit Bauchschmerzen ab 65 Jahren und mit Obstipation und anderen gastrointestinalen Symptomen ab 67 Jahren. Für Frauen traf dies beim zusätzlichen Symptom Gewichtsverlust ab 65 Jahren und Bauchschmerzen ab 79 Jahren sowie Blähungen ab 80 Jahren zu.

Insgesamt waren Gewichtsverlust, Obstipation, Luftnot und Bauchschmerzen am häufigsten mit Krebsdiagnosen verbunden und das Vorliegen mehrerer unspezifischer Symptome erhöhte das Risiko gegenüber nur einem oder gar keinem zusätzlichen Symptom.

Limitierend ist anzumerken, dass nur Symptome ausgewertet werden konnten, die in der Konsultation als gravierend genug betrachtet wurden, um dokumentiert zu werden.

Fazit: Diese britische Kohortenstudie identifiziert bei Menschen, die Müdigkeit angeben, besonders ältere Männer mit Gewichtsverlust oder gastrointestinalen Symptomen als Risikogruppe für eine neu diagnostizierte Krebserkrankung. Bei Frauen besteht ein ähnlich hohes Risiko erst in etwas höheren Altersgruppen.

Außerdem ist eine Anämie bei neu aufgetretener Müdigkeit ab einem Alter von circa 60 Jahren mit einem hohen Krebsrisiko verbunden.

White B, Renzi C, Barclay M, Lyratzopoulos G.; Underlying cancer risk among patients with fatigue and other vague symptoms: a population-based cohort study in primary care; Br J Gen Pract. 2023 Jan 26; 73(727):e75-e87. doi: 10.3399/BJGP.2022.037

Wie gelingt Advance Care Planning?

Bei lebenslimitierenden Erkrankungen kann eine Vorausplanung der Gesundheitsversorgung helfen, gute Entscheidungen für eine patientenorientierte Versorgung zu treffen. Aus den Basisdaten einer Interventionsstudie in Belgien wurde daher untersucht, wovon es abhängt, ob sich lebenslimitierend erkrankte Menschen um eine solche Vorausplanung kümmern.

Zur Erhebung wurde dabei der „Advance Care Planning Engagement Survey“ genutzt. Zu den Einschlusskriterien der Studie gehörte die Frage „Wären Sie überrascht, wenn diese Patientin/dieser Patient in den nächsten zwölf bis 24 Monaten stirbt?“, die vom behandelnden Hausarzt mit „Nein“ beantwortet werden musste. Diese „Surprise-Question“ ist als Screening-Instrument zur Identifizierung palliativer Patienten geeignet. [1]

35 Hausärzte rekrutierten 95 erwachsene palliativ erkrankte Patienten für die Studie, von denen ungefähr die Hälfte über 80 Jahre alt waren. Neben klinischen Parametern wie Lebensqualität und psychischen Symptomen wurden Aspekte der hausärztlichen Gespräche zur Vorausplanung erfragt. Die Betroffenen sollten angeben, inwieweit sie von ihren Hausärzten Informationen zum Advance Care Planning erhalten hatten, wie aufmerksam ihr Hausarzt ihnen zuhöre und ob er sich dafür interessiere, was ihnen für die zukünftige Versorgung wichtig sei.

Ungefähr ein Drittel gab an, ausführliche Informationen erhalten zu haben und mehr als drei Viertel, dass ihr Hausarzt großes Interesse an ihren Wünschen für die zukünftige Versorgung zeige. Das Ausmaß, in dem sich Patienten für die Vorausplanung engagierten, hing weder von demografischen oder klinischen Faktoren noch von der erhaltenen Information ab, sondern von der Qualität des Zuhörens und des Interesses der Hausärzte.

Fazit: Diese Studie untersuchte die subjektive Wahrnehmung der Kommunikation zum Advance Care Planning. Dabei scheint für eine gelingende Vorausplanung Zuhören und das Interesse an den Wünschen für die Zukunft der Patientinnen und Patienten wichtiger als Reden und die Vermittlung von Informationen zu sein.

Stevens J, Miranda R, Deliens L, Pype P, De Vleminck A, Pardon K.; Advance care planning engagement in patients with chronic, life-limiting illness: baseline findings from a cluster-randomised controlled trial in primary care; Br J Gen Pract. 2023 Apr 27; 73(730):e384-e391; doi: 10.3399/BJGP.2022.0100

Literatur:

1. Downar J, Goldman R, Pinto R, Englesakis M, Adhikari NK. The „surprise question“ for predicting death in seriously ill patients: a systematic review and meta-analysis. CMAJ. 2017 Apr 3; 189(13):E484-E493; doi: 10.1503/cmaj.160775

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