Praxis WissenNicht jeder “Fehler” ist ein Fehler

Diagnostische Tests sind im Frühstadium oft noch nicht aussagekräftig, Symptome manchmal nicht typisch: In der Hausarztpraxis gibt es viele Faktoren, die die diagnostische Unsicherheit erhöhen. Doch nicht jedes kritische Ereignis ist auch ein Fehler.

Fehlerbericht #259

Ein Kollege berichtet von einer ihm bislang nicht bekannten 48-jährigen Patientin.

Was ist passiert?

Die Patientin kam mit Schmerzen in der Mitte von Rücken und Brust. Sie waren unregelmäßig, wurden kolikartig beschrieben und verschlimmerten sich durch Anstrengung (Treppe) nicht, waren von wechselnder Intensität. Jetzt nicht so schlimm. Sono und Ruhe-EKG waren o.B., es bestanden massive Myogelosen von Nacken und Schultern sowie starker persönlicher Kummer. Cholesterin war als o.B. bekannt, Patientin rauchte ca. 20 Zigaretten tgl. Sie wurde mit Tetrazepam* und Ibuprofen nach Hause geschickt mit der Bitte, sich bei Verschlimmerung wieder vorzustellen.

Was war das Ergebnis?

Abends Anruf: „Es geht mir schlechter, ich gehe ins Krankenhaus.“ Einverstanden, ich rief die Klinikärztin an und berichtete Untersuchungsergebnisse und V. a. vielleicht doch kardiale Genese. Die Patientin hatte einen akuten Hinterwandinfarkt. Wurde gestentet, zum Glück keine Einschränkung der Pumpfunktion.

Mögliche Gründe, die zu dem Ereignis geführt haben können?

Abgelenkt durch massive Rückenmyogelosen und Stress, beruhigt durch o.B.-EKG, Unglauben, dass noch recht junge Frau mit nur einem Risikofaktor Herzinfarkt haben könnte.

Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Ereignisses getroffen oder planen Sie zu ergreifen?

Auch im Zweifel Troponintest machen. Nicht nur an Infarkt denken, sondern im Zweifelsfall einmal zu viel einweisen, auch wenn die Schmerzsymptomatik nicht schlüssig ist. Auch fertile Frauen mit nur einem Risikofaktor bekommen Myokardinfarkte!

*Der Fallbericht stammt aus 2005 – Tetrazepam würde man heute natürlich nicht mehr verordnen.

Diagnostische Unsicherheit ist in der hausärztlichen Praxis ein besonderes Problem – nicht nur weil die technischen und praktikablen Möglichkeiten der Diagnostik dort begrenzt sind, sondern aus systematischen Gründen: Weil viele Patienten mit nur selten schwerwiegenden Erkrankungen gesehen werden, und zudem im Frühstadium der Beschwerden viele „beweisende“ diagnostische Tests noch nicht positiv sind. Diese Unsicherheit muss bewältigt werden, und es kommt vor allem darauf an, aus kritischen Ereignissen möglichst zielführend zu lernen.

Zahlreiche aktuelle Studien zeigen, dass die Diagnostik (zumindest in den nichtoperativen Fächern) wohl der ärztliche Handlungsbereich ist, in dem es mit zu den meisten schwerwiegenden Fehlerereignissen kommt. In der modernen medizinischen Versorgung verläuft die Diagnostik in der Regel in mehrstufigen Handlungs- und Entscheidungsketten.

Dabei müssen Hausärzte bereits ganz am Anfang wegweisende Vorentscheidungen treffen, um Ernstes rechtzeitig zu erkennen und Patienten auf den richtigen Pfad zu bringen. Das ist auf der einen Seite mit einer hohen Unsicherheit behaftet – zumal es zu dieser Aufgabe auch gehört, zuerst den „ medizinischen Kern“ aus der Beschwerdeschilderung und Symptomatik herauszuschälen. Auf der anderen Seite begründet es aber auch das Selbstbewußtsein des Allgemeinarztes, als Generalist die Einzeldisziplinen zumindest zu überschauen, was in der spezialistischen Versorgung nicht mehr ohne weiteres gegeben ist. Dabei ist es beruhigend zu wissen, dass – nach dem Fallbestand der Schiedsstellen zu urteilen – der Vorwurf der „Fehldiagnose“ häufiger gegen die „definitive“ Spezialdiagnose erhoben wird als gegen Hausärzte.

Im Beispiel aus www.jeder-fehler-zaehlt.de (JFz, s. oben) gehen wir von einem klassischen Fall aus: dem übersehenen (?) oder nicht erkannten Myokardinfarkt. Die Auswahl haben wir getroffen, weil

  • in der JFz-Datenbank dieses Problem mit mehr als 20 Berichten zum Thoraxschmerz eine prominente Rolle spielt und
  • dieser Unsicherheitsbereich aufgrund der Forschungsarbeiten der Marburger Kollegen (Prof. Donner-Banzhoff, Prof. Bösner u.a.) für die hausärztliche Handlungsebene relativ gut erforscht ist. Das resultierte nicht zuletzt in der DEGAM-Leitlinie Brustschmerz [1], die mit dem [Marburger Herzscore](http://hausarzt. link/RFXkO) ein gutes Instrument für die Praxis bereitstellt.

Der Fall 259 beschreibt eine 48-jährige Patientin, die einen Hinterwandinfarkt erleidet und im Marburger Herzscore, um eine mögliche kardiale Ursache (KHK) bei akutem Brustschmerz abzuschätzen, sogar mit null von fünf möglichen Punkten abgeschnitten hätte. Auf der Grundlage dieser Leitlinie (und in der Prüfstichprobe dieses Scores hatte kein einziger von 41 Patienten mit null Punkten am Ende eine KHK) hat der Kollege also richtig gehandelt. Und: Die Leitlinie deckt sein Handeln, er hat sogar noch ein EKG geschrieben (das im Frühstadium des Infarkts häufig noch ohne Auffälligkeit ist).

Es geht uns hier nicht um die Vielgestaltigkeit oder Untypik der Symptomatik des akuten Infarkts, sondern vielmehr darum, dass der Kollege dieses kritische Ereignis akzeptieren muss und welche Folgerungen er daraus ziehen kann. Er gibt im Fallbericht einige Hinweise:

  • Mehrfach überdenkt er, ob er sich von Stereotypen für Risiko oder mögliche Diagnose hat leiten lassen. Solche Stereotypen sind sedimentierte Erfahrungen, die zum hausärztlichen Blick dazugehören, allerdings ‚vergessen haben, woher sie stammen’. Solche Stereotypen regelmäßig zu reflektieren, ist auf jeden Fall wichtig – allerdings gehört die Patientin tatsächlich zu einer relativen Niedrig-Risikogruppe.
  • Abgelenkt hat natürlich auch eine Symptomatik von massiven Rückenmyogelosen und Stress. Trotzdem hat der Arzt Sonographie und EKG durchgeführt. Das zeigt, dass er nicht nur eingleisig gedacht hat.
  • Hätte ein zusätzlicher, ihm verfügbarer Test (auf Troponin) seine Unsicherheit klären können? Im Frühstadium ist auch dieser Test oft negativ.
  • Einmal mehr frühzeitig einweisen? Das ist im Alltag meist nicht praktikabel: Er müsste dann sehr viele seiner Patienten auf bloßen Verdacht hin einweisen. Jedoch hat er auf die Patienteneinschätzung (die übrigens auch in den Marburger Herzscore eingeht) am Abend ja reagiert.

Fazit

Es ist in der Tat nicht einfach, aus diesem kritischen Ereignis eine klare und praktikable Lehre zu ziehen. Darauf soll dieses Beispiel hinweisen. Manches, was man sich in diesem Fall vielleicht hätte wünschen können (mehr Tests, mehr Einweisungen), stößt nicht nur auf Grenzen der Praktikabilität, sondern setzt die Patienten, die die seltene Zielkondition nicht haben, zudem auch diagnostischen oder interventionellen Risiken aus. Auch hier verläuft eine Leitplanke hausärztlicher Arbeit.

Bei dem Lernen aus kritischen Ereignissen kommt es aber genau darauf an, ob man klare, praktikable Folgerungen identifizieren kann. Bloße Maximen („Das nächste Mal besser aufpassen!“) helfen in der Regel nicht weiter – es sei denn, es ist wirklich ein Ausrutscher (slip or lapse) passiert. Wenn das beste verfügbare Wissen unter Bedingungen der Unsicherheit (hier: Leitlinie) das Vorgehen insgesamt deckt, sollte man nicht von einem diagnostischen Fehler sprechen [2].

Gibt es aus Ihrer Erfahrung auch ein Beispiel diagnostischer Unsicherheit, das Sie nicht loslässt und das Sie berichten können – und welche Folgerungen Sie gezogen haben?

Teilen Sie es mit Ihren Kolleginnen und Kollegen unter: https://jeder-fehler-zaehlt.de

Literatur

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