Ethische FallbesprechungenSchwierige Entscheidungen ethisch meistern

Gerade gegen Lebensende stellen viele Patienten Hausärzte und Pflegekräfte vor große Herausforderungen. Ethische Fallbesprechungen können helfen, im Sinne des Patienten zu entscheiden und alle Beteiligten entlasten. Ein Leitfaden.

Am Ende eines langen Lebens: Fallbesprechungen können helfen

Die Betreuung hochbetagter, multimorbider Patienten in Pflegeeinrichtungen stellt Hausärzte oft vor ethische Herausforderungen, zum Beispiel wie lange potenziell lebensverlängernde Maßnahmen fortgesetzt werden sollen. Nachdem Klinische Ethikkomitees in vielen deutschen Krankenhäusern etabliert sind, entstehen zunehmend auch ambulant ethische Beratungsangebote.

Sie können helfen, wenn ethische Verpflichtungen unklar bleiben (z.B. keine oder widersprüchliche Informationen über den Patientenwillen, fragliche Einwilligungsfähigkeit, schwierige Prognosea schätzung) oder konfligieren (z.B. dringender Patientenwunsch nach einer Behandlung mit sehr ungünstigem Nutzen-Schaden-Verhältnis).

Letztlich geht es nicht primär um die Durchführung einer bestimmten Maßnahme, sondern um die Frage, was in der vorliegenden Lebens- und Behandlungssituation für die Patienten das für sie (mutmaßlich) richtige Behandlungsziel ist und welche Belastungen und Risiken sie (mutmaßlich) dafür bereit sind, in Kauf zu nehmen.

So weit wie möglich ist dies mit den Betroffenen selbst zu besprechen: Im Rahmen eines “Advance Care Planning” (“Behandlung im Voraus Planen”) kann man bei erhaltener Entscheidungsfähigkeit die Ziele und gewünschten Maßnahmen mit den Patienten ermitteln und dokumentieren.

Bei nicht eindeutig auf die vorliegende Situation anwendbarem Patientenwillen kann eine ethische Fallbesprechung helfen, eine Entscheidung im besten Interesse des Patienten zu treffen. Dies sichert die Selbstbestimmung der Betroffenen, vermeidet Entscheidungskonflikte und entlastet die beteiligten Personen, vor allem die Angehörigen sowie Hausärzte und Pflegekräfte.

Hausarzt: idealer Moderator

Abhängig von den Gegebenheiten finden ethische Fallbesprechungen in Pflegeeinrichtungen, Wohnungen oder Arztpraxen statt. Es nehmen Vertreter aller beteiligten Berufsgruppen und bei nicht einwilligungsfähigen Patienten auch die Angehörigen teil.

Ein Moderator führt die Diskussion. Prädestiniert dafür sind Hausärzte, aufgrund der erlebten Anamnese, familienmedizinischen Bezüge zu den Angehörigen, der guten Kenntnis des sozialen Netzwerks, besonders der verfügbaren Ressourcen, und ihrer moderierenden Rolle im multi-professionellen Team.

Die endgültige Entscheidung zwischen medizinisch vertretbaren Optionen (einschließlich des Unterlassens von Maßnahmen) trifft der Patient oder sein Vertreter nach Maßgabe des erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillens, falls der Patient aktuell nicht einwilligungsfähig ist. Formal ist das Ergebnis einer ethischen Fallbesprechung nicht bindend; die darin herausgearbeiteten Entscheidungsgrundlagen, insbesondere die Interpretation des Patientenwillens, sind aber ethisch wie rechtlich maßgeblich zu berücksichtigen.

Können sich behandelnder Arzt und gesetzlicher Vertreter nicht einigen, welche Behandlungsmaßnahmen dem Willen des Patienten entsprechen, kann dies ein Betreuungsgericht klären (Paragraf 1904 BGB Abs. 4). Hingegen ist dies nicht erforderlich, wenn sich Arzt und Vertreter einig sind.

Die prinzipienorientierte Falldiskussion

Die prinzipienorientierte Falldiskussion ist ein Modell, um ethische Fallbesprechungen zu strukturieren. Es hat sich klinisch und außerklinisch bewährt und kann Hausärzten als Leitfaden für schwierige ethische Entscheidungen dienen.

Es basiert auf den international etablierten vier medizinethischen Prinzipien, die die moralischen Verpflichtungen des Gesundheitspersonals definieren: Sie sollen die Selbstbestimmung des Patienten fördern und achten (Prinzip Respekt vor der Patientenautonomie, idealtypisch als Ergebnis eines – meist als Gemeinsame Entscheidungsfindung/Shared Decision Making bezeichneten – Befähigungsprozesses), dem Patienten bestmöglich nutzen (Prinzip des Wohltuns) und ihm keinen Schaden zufügen (Prinzip des Nichtschadens) sowie verschiedene Patienten und andere Beteiligte gerecht behandeln (Prinzip der Gerechtigkeit).

Die resultierenden Verpflichtungen gegenüber dem Patienten decken sich mit den rechtlichen Anforderungen der Indikationsstellung (Prinzipien Wohltun und Nichtschaden) und der Einwilligung nach Aufklärung (“informed consent”).

Die prinzipienorientierte Falldiskussion ersetzt aber nicht die Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient, sondern setzt diese voraus: Nur so können die Behandlungswünsche des Patienten in der Fallbesprechung angemessen berücksichtigt werden. Bei nicht einwilligungsfähigen Patienten sind vorab Gespräche mit dem Vertreter oder nahestehenden Personen zu führen, um den Willen zu ermitteln. Die Falldiskussion folgt fünf Schritten:

Schritt 1: Medizinische Aufarbeitung des Falls

a) Zunächst wird die aktuelle medizinische Situation des Patienten möglichst genau beschrieben, einschließlich der Vorgeschichte. Ziel ist eine gemeinsam geteilte, umfassende Sicht der Situation des Patienten, unabhängig vom jeweiligen Vorwissen. Dabei sind auch die psychosozialen Gegebenheiten zu erfassen.

b) Nun werden die verfügbaren (Be-)Handlungsstrategien erarbeitet, die sich aus etwaigen unterschiedlichen Behandlungszielen ergeben oder die – bei gleichem Behandlungsziel – durch unterschiedliche Nutzen-Schaden- Relationen gekennzeichnet sind. Hierbei ist besonders zu berücksichtigen, welches Behandlungsziel der Patient in der vorliegenden Situation anstrebt. Für jede einzelne Handlungsstrategie ist der zu erwartende weitere Verlauf zu klären: Wie groß sind die Überlebenschancen des Patienten? Mit welcher Lebensqualität wird er weiterleben? Bei unsicherer Prognose kann es helfen, zumindest das beste und schlechteste zu erwartende Ergebnis zu beschreiben und die jeweilige Eintrittswahrscheinlichkeit bestmöglich zu schätzen.

Schritt 2: Ethische Verpflichtungen gegenüber dem Patienten

Nun werden die Handlungsstrategien bewertet. Es hat sich bewährt, mit der Wohlergehens-Perspektive zu beginnen, um zunächst unabhängig vom Patientenwillen zu prüfen, welches Vorgehen, also welches Behandlungsziel und welche korrespondierende(n) Maßnahme(n), aus Sicht des Teams für den Patienten am besten ist. Dies ist vor allem dann hilfreich, wenn es widersprüchliche oder wenig verlässliche Informationen über den Patientenwillen gibt.

Bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit dem Patienten dient diese Perspektive dazu, den Patienten bei seiner Entscheidung zu unterstützen und dort zu gründlichen und selbstkritischen Abwägungen anzuregen, wo seine Präferenzen von der Nutzen-Schaden-Abwägung des Teams abweichen – nicht um den Patienten umzustimmen, sondern um sich zu vergewissern, dass seine Wünsche wohlinformiert und im Einklang mit seinen grundlegenden und längerfristigen Wertvorstellungen sind.

a) Wohltun und Nichtschaden

Nun überlegt die Gruppe, welche der Handlungsstrategien aus der Fürsorgeperspektive, also aus Sicht des beteiligten Teams, für das Wohlergehen des Patienten insgesamt am besten erscheint. Das betrifft das Therapieziel und die Abwägung des Nutzens und Schadens der Therapieoptionen.

So weit als möglich wird man sich hierbei an allgemein geteilten Wertvorstellungen orientieren. Letztere ergeben sich vor allem aus der Einschätzung und Erfahrung, wie Patienten in vergleichbaren Situationen die Therapieziele und das Nutzen-Schaden-Verhältnis verschiedener Handlungsoptionen bewerten würden oder üblicherweise bewerten. Anders ausgedrückt: Welche Behandlungsstrategie würde man einem ratsuchenden Patienten aus Sicht des Teams empfehlen?

Sofern eine eindeutige Bewertung aus der Fürsorgeperspektive heraus unmöglich ist, sollte man prüfen, ob tendenziell eine Behandlungsstrategie zu bevorzugen wäre.

b) Respekt der Autonomie

Anschließend ist zu klären, welche der verfügbaren Handlungsstrategien (Behandlungsziele und korrespondierende Therapieoptionen) der Patient selbst bevorzugt und wie dies im Kontext seiner persönlichen Werte, Präferenzen und Einstellungen begründet ist. Sofern möglich sollte der Patientenwille bereits vorab (s.o.) ermittelt worden sein.

Bei nicht einwilligungsfähigen Patienten ist dafür auf eine vorliegende Patientenverfügung, auf zuvor mündlich geäußerte Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Patientenwillen zurückzugreifen. Eine Patientenverfügung muss im Dialog mit dem gesetzlichen Vertreter oder den Angehörigen sorgfältig und im Sinne des Patienten interpretiert werden. In diese sind auch aktuelle verbale oder nonverbale Äußerungen des Betroffenen einzubeziehen.

Schritt 3: Ethische Verpflichtungen gegenüber Dritten

Anschließend ist zu prüfen, welche Bedürfnisse anderer Personen für die Entscheidungsfindung relevant sind. Neben den Angehörigen und nahestehenden Personen (z.B. Zeit zum Abschiednehmen) sind die Bedürfnisse anderer Patienten zu berücksichtigen, wenn etwa mehrere Patienten um begrenzte Versorgungskapazitäten konkurrieren. Auch Fragen des Ressourcenverbrauchs wären hier zu diskutieren, sofern sie für die vorliegende Entscheidung relevant sind.

Die Verpflichtungen gegenüber Dritten sind dabei den Verpflichtungen gegenüber dem Patienten (Schritt 2) nachgeordnet. In der hausärztlichen Praxis dient dieser Schritt vor allem dazu, die Bedürfnisse der Angehörigen bei der Umsetzung der für den Patienten besten Option nicht aus dem Blick zu verlieren.

Schritt 4: Synthese

Nun führt die Gruppe die vorangehenden Einzelbewertungen zu einer übergreifenden Situationsbeurteilung zusammen. Wenn die Ergebnisse der drei Bewertungsperspektiven – Wohlergehen des Patienten, Patientenwille und Verpflichtungen gegenüber Dritten – übereinstimmen, spricht aus ethischer Sicht alles dafür, die entsprechende Behandlungsoption zu ergreifen.

Liegt hingegen ein ethischer Konflikt vor, ist eine begründete Abwägung der konfligierenden Verpflichtungen erforderlich. Dabei sind fallbezogene Gründe herauszuarbeiten, welche Verpflichtung Vorrang genießen soll. Lehnt ein aufgeklärter, einwilligungsfähiger Patient eine Maßnahme ab, hat seine Selbstbestimmung, aktuell oder durch einen eindeutigen zuvor erklärten oder mutmaßlichen Willen, ethisch wie rechtlich ausnahmslos Vorrang vor dem Fürsorgebestreben Dritter.

Wünscht ein Patient aus medizinischer Sicht zweitrangige oder gar fragwürdige Maßnahmen, gewinnen die ethischen Fürsorgeüberlegungen dagegen tendenziell an Gewicht, etwa angesichts eines an einem metastasierten Krebsleiden erkrankten, schon moribunden Patienten mit verzweifeltem Lebenswunsch, der auf der Durchführung einer aus medizinischer Sicht praktisch aussichtslosen erneuten Chemotherapie besteht.

Kommt es zu keiner Einigung bei der Fallbesprechung, sind die unterschiedlichen Positionen mit ihrer ethischen Begründung zu dokumentieren.

Anschließend sollte man überlegen, welche weiteren Schritte erforderlich sind, um das Ergebnis der Fallbesprechung umzusetzen und ob ggf. ein erneutes, späteres Gespräch sinnvoll wäre.

Das Ergebnis der Fallbesprechung sollte man dokumentieren und den an der Versorgung beteiligten Personen und Institutionen mitteilen. Insbesondere erscheint es sinnvoll, Behandlungsentscheidungen für zukünftige gesundheitliche Krisensituationen entsprechend der ermittelten Patientenpräferenzen vorauszuplanen.

Ein funktionierendes regional implementiertes System der Vorausplanung (“Advance Care Planning”) kann gewährleisten, dass die resultierenden Festlegungen verlässlich über die verschiedenen Schnittstellen hinweg weitergegeben und beachtet werden.

Schritt 5: Kritische Reflexion

Als letzter Bearbeitungsschritt kann eine kritische Reflexion der Fallbesprechung sinnvoll sein: Worin besteht der stärkste Einwand gegen die favorisierte Handlungsoption? Und: Wie hätte der Entscheidungskonflikt möglicherweise verhindert werden können? Zum einen soll dadurch das Ergebnis der Fallbesprechung noch einmal kritisch geprüft (und ggf. modifiziert) werden. Zum anderen ist zu überlegen, ob man aus dem vorliegenden Fall für zukünftige Fälle lernen kann.

Ethische Fallbesprechungen können alle an der Versorgung Beteiligten dabei unterstützen, im Sinne des Patienten zu handeln. Für Hausärzte bleibt die Herausforderung, die meist nicht eigens vergüteten ethischen Fallbesprechungen zeitlich zu realisieren.

Hinweis: Autorenbeitrag und Fallbeispiel wurden stark gekürzt. Sie sind in voller Länge samt Literaturangaben in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin 3/2018 nachzulesen. Marckmann G, Behringer B, in der Schmitten J. Ethische Fallbesprechungen in der hausärztlichen Versorgung: Ein Leitfaden für die Praxis. DOI 10.3238/zfa.2018.0116-0120 Marckmann G, Behringer B, in der Schmitten J. Beendigung der Sondenernährung in einer Pflegeeinrichtung – eine ethische Falldiskussion. DOI: 10.3238/zfa.2018.0121-0124

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