Anämie: Wann Sie handeln müssen

Eine Anämie wird oft als Zufallsbefund bei Laboruntersuchungen festgestellt. In der Hausarztpraxis sollten behandlungsbedürftige Anämien schnell erkannt werden, ohne den Patienten durch unnötige Diagnostik zu verunsichern.

In Deutschland kommt eine Anämie bei bis zu 19 Prozent der Frauen und 1,5 Prozent der Männer vor. Neben Frauen haben Ältere ein erhöhtes Risiko, so dass 25 Prozent der über 85-jährigen eine Anämie aufweisen [4].

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht ab einem Hämoglobingehalt von unter 13 g/dl (8,1 mmol/l) bei Männern von einer Anämie. Bei Frauen gelten Werte unter 12 g/dl (7,4 mmol/l) als anämisch, aber bei Frauen ohne Eisenmangel liegt der untere Normalwert ähnlich wie bei Männern bei 13,5 g/dl (8,3 mmol/l) [1, 2] (Tab. 1). Die Werte bei Kindern sind altersabhängig [2, 3].

Häufige Ursachen

Eisenmangel: Die häufigste Ursache von Anämien bei Erwachsenen ist ein Eisenmangel, der meist durch Blutverlust vor allem bei Frauen im gebärfähigen Alter oder durch fleischarme Ernährung entstanden ist [2, 5]. Bei Kindern ist eine Eisenmangelanämie mit 30 Prozent die zweithäufigste Ursache [3].

Unspezifische Effekte durch akute und chronische Erkrankungen: Eine weitere wichtige Ursache sind chronische und akute Erkrankungen, die durch Veränderungen des Eisenstoffwechsels und der Erythrozytenproduktion zu einer Anämie führen. Akute Infektionen sind die häufigste Ursache von Anämien im Kindesalter, während im Alter chronische Erkrankungen eine wichtige Rolle spielen [5].

Makrozytäre Anämie durch Mangel an Vitamin B12 oder Folsäure: Ein Vitamin-B12-Mangel kommt bei 5 Prozent der Erwachsenen und bei bis zu 30 Prozent der Älteren vor. Die häufigste Ursache bei Jüngeren ist eine defiziente Ernährung. 70 bis 90 Prozent der vegan oder vegetarisch ernährten Menschen weisen einen funktionellen Vitamin-B12-Mangel auf. Bei Älteren sind Aufnahmestörungen am häufigsten, die durch Medikamente wie Metformin oder Protonenpumpenhemmer verstärkt werden. Eine Anämie tritt erst im Verlauf eines Vitamin-B12-Mangels auf [5, 6]. Folsäure ist in grünblättrigem Gemüse enthalten. Ein Folsäuremangel geht meist mit einer gravierenden Fehlernährung oder Aufnahmestörung einher. Die typische Makrozytose bei Vitamin-B12- oder Folsäuremangel kann durch einen gleichzeitig vorliegenden Eisenmangel maskiert werden [5].

Besondere Ursachen der Anämie

Durch den steigenden Anteil von Patienten mit Migrationshintergrund ist die Sensibilisierung für die Möglichkeit einer Hämoglobinopathie zunehmend wichtig, um eine Fehlversorgung zu vermeiden [11]. Bei chronischen oder rezidivierenden Anämien bei Patienten mit genetischen Wurzeln in Regionen wie Mittelmeerraum, Afrika, Asien, Mittlerer Osten oder Karibik sollte eine weiterführende Diagnostik angeboten werden [12, 13]. Hämoglobinopathien sollten immer in Absprache mit der Hämatologie behandelt werden.

Auch eine Malaria kann sich nach einem Aufenthalt in entsprechenden Risikogebieten als Anämie präsentieren [14].

Bei Patienten mit chronischen Nierenfunktionseinschränkungen kommt eine Anämie mit zunehmender Einschränkung der Nierenfunktion häufiger vor. Wenn eine symptomatische Anämie bei Patienten mit einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) unter 45 ml/min nicht auf die orale Eisensubstitution reagiert, sollte bei Behandlungswunsch eine intravenöse Substitution oder eine Überweisung in die Nephrologie erwogen werden [15].

Auch entzündliche Darmerkrankungen oder Zöliakie können zu einer Anämie führen, die nicht auf Substitution mit Eisen, Vitamin B12 oder Folsäure reagiert.

Symptome

Symptome der Anämie wie Blässe können manchmal durch Make-up kaschiert sein. Symptome wie Müdigkeit, Leistungsabfall und Konzentrationsmangel sind unspezifisch. Auch eine Belastungsdyspnoe kann auftreten, aber bei einer langsam entstandenen Anämie wird die geringere Sauerstofftransportkapazität des Blutes durch verschiedene physiologische Mechanismen und Verhaltensadaptation kompensiert, so dass auch bei schwereren Anämien überraschend wenig Symptome auftreten. Bei Älteren kann eine Anämie zur Dekompensierung einer bestehenden kardialen oder pulmonalen Insuffizienz beitragen. Eine Anämie ist bei Älteren mit einer niedrigen Lebensqualität assoziiert, aber ein kausaler Zusammenhang kann wegen vieler Störfaktoren nicht ohne Weiteres angenommen werden.

Hinweise auf einen abwendbar gefährlichen Verlauf

Bei Kreislaufsymptomen oder bei in einem kurzen Zeitraum entstandenen Anämie sollte die Möglichkeit einer akuten oder subakuten Blutung in Betracht gezogen werden. Risikogruppen sind Patienten, die mit NSAR oder Antikoagulanzien behandelt werden, sowie Patienten mit Gerinnungsstörungen. Insbesondere bei Älteren sollten auch Malignitäten wie Darmkrebs in der Differenzialdiagnose berücksichtigt werden. Blutbildveränderungen können ein Hinweis auf hämatologische Erkrankungen sein.

Eine akute oder chronische Hämolyse kommt sehr selten als Ursache einer Anämie vor, kann aber fulminant verlaufen. Bei Verdacht auf eine Hämolyse und schnell entstandener Anämie mit Symptomen wie Schüttelfrost, Flankenschmerz, Ikterus oder Hämoglobinurie sollte eine Einweisung in die Hämatologie erfolgen.

Diagnostik

Bei Älteren sollte neben entzündlichen Erkrankungen und Malignitäten auch die Ernährung berücksichtigt werden. Eine Mangelernährung aufgrund von einseitiger Ernährung und im Alter auftretenden Aufnahmestörungen ist mit Frailty, Fallneigung und weiteren negativen gesundheitlichen Folgen assoziiert [7, 8].

Bei Anämie mit typischer Anamnese einer eisenarmen Ernährung kann auf eine weitere Diagnostik vorerst verzichtet werden. Die rasche Verbesserung der Anämie nach einigen Wochen Therapie sichert die Diagnose.

Auch bei Kindern mit einer Infektion in den letzten 4 Wochen kann vorerst gewartet werden. Die Anämie sollte nach einigen Wochen verschwinden [3].

Ein pragmatischer diagnostischer Algorithmus für die hausärztliche Praxis findet sich in Abbildung 1.

Ferritin ist ein Akute-Phase-Eiweiß, so dass normale oder erhöhte Werte einen Eisenmangel nicht ausschließen. Gegebenenfalls können die Blutsenkungsgeschwindigkeit oder das CRP mitbestimmt werden.

Bei Vitamin-B12-Werten im unteren Normbereich (ca. 150 – 400 pmol/l) kann Methylmalonat im Spontanurin bestimmt werden. Normale Methylmalonat-Werte machen eine Vitamin-B12-Defizienz unwahrscheinlich, aber erhöhte Werte können auch bei verringerter Nierenfunktion vorkommen [5, 9]. Untersuchungen nach atrophischer Gastritis als Ursache werden wegen fehlender therapeutischer Konsequenz nicht generell empfohlen.

Therapie häufiger Ursachen

Eisenmangelanämie

Ernährungsberatung: Fleischprodukte sollten bevorzugt werden. Pflanzliche Quellen enthalten schlechter aufnehmbares zweiwertiges Eisen und häufig Inhaltsstoffe, die die Eisenaufnahme hemmen, z.B. Polyphenole und Phytate in Tee und Kaffee, Gemüse, Getreide und Nüssen [2]. Rote Beete enthält nicht viel Eisen und kann nicht zum Ausgleich eines Eisenmangels empfohlen werden. Auch Kalzium in Milchprodukten hemmt die Aufnahme von Eisen.

Orale Eisensubstitution: Es gibt verschiedene Eisenpräparate im Handel, die unterschiedlich gut vertragen werden. Am häufigsten treten Nebenwirkungen wie Übelkeit, Bauchschmerzen, Obstipation oder Durchfall auf. In diesen Fällen kann das Präparat nach Mahlzeiten oder nur jeden 3. Tag eingenommen werden. Der Therapieerfolg wird sich in diesen Fällen langsamer einstellen.

Eine intravenöse Eisensubstitution wird nicht empfohlen und sollte nach sorgfältiger Risikoabwägung sehr schweren und therapieresistenten Fällen vorbehalten bleiben. Die Patienten sollten über die Risiken aufgeklärt werden. Zudem sollen Überwachung und Notfallversorgung für Anaphylaxie bis 30 Minuten nach der Applikation verfügbar sein. Im ersten Schwangerschaftstrimenon sollte diese Therapieform gar nicht angewendet werden [10].

Bei erfolgreicher Therapie sollte bei der Kontrolle nach vier Wochen ein deutlicher Hb-Anstieg sichtbar sein. Nach Normalisierung des Hb-Werts sollte die Therapie noch einige Wochen weitergeführt werden. Das Serum-Ferritin kann nach drei Monaten überprüft werden.

Vitamin-B12-Mangel

Bei Anämie durch Vitamin-B12-Mangel sollte immer eine Substitution eingeleitet werden, um neurologische Folgeschäden zu vermeiden oder zu lindern. Die orale Substitution ist auch bei neurologischen Beschwerden gleichwertig. Auch bei Aufnahmestörungen und Mangel an intrinsischem Faktor ist die Aufnahme durch passive Diffusion bei hochdosierter Therapie ausreichend [5]. Die hochdosierte orale Therapie kann nach dem Schema in Tabelle 1 (S. 39) angewendet werden [11]. Bei fehlender Therapietreue sollte die parenterale Therapie vorgezogen werden [11].

Anämie bei chronischen oder akuten Erkrankungen

Entzündliche Prozesse können zu einer Störung der Eisenaufnahme und -verwertung führen, durch Erythropoetin-Mangel kann es zu einer Störung der Blutbildung kommen. Die Therapie richtet sich nach der Ursache. Bei akuten Erkrankungen wird sich die Anämie einige Wochen nach der Ausheilung verbessern. Bei chronischen Erkrankungen bleibt die Behandlung oft frustran. Ein bestehender Eisenmangel soll ausgeglichen werden. In schweren Fällen kann je nach Grunderkrankung eine Überweisung in die Hämatologie oder Nephrologie zur Behandlung mit Erythropoetin indiziert sein.

Mögliche Interessenkonflikte: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Adaptiert nach [5]

Quellen:

  1. Low MS, Speedy J, Styles CE, De-Regil LM, Pasricha SR. Daily iron supplementation for improving anaemia, iron status and health in menstruating women. Cochrane Database Syst Rev. 2016 Apr 18;4:CD009747. doi: 10.1002/14651858.CD009747.pub2
  2. Behnisch W, Muckenthaler M, Kulozik A. S1 -Leitlinie 025-021: Eisenmangelanämie. Fassung, AWMF, 2016.
  3. Kulozik AE, Kunz J. S1-Leitlinie Anämiediagnostik im Kindesalter. Fassung, AWMF -Registriernr. 025-027, 2018
  4. Kaufner L, von Heymann C. S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Präoperativen Anämie. AWMF-Registriernr. 001- 0024, 2018
  5. NHG-Standaard Anemie (eerste herziening). NHG-werkgroep Anemie. Huisarts Wet 2014;57528-36.
  6. Herrmann W, Obeid R. Ursachen und frühzeitige Diagnostik von Vitamin-B12-Mangel. Dtsch Arztebl 2008; 105(40): 680–5
  7. Bianchi VE. Role of nutrition on anemia in elderly. Clin Nutr ESPEN. 2016; 11: e1-e11.
  8. Verlaan S, Ligthart-Melis GC, Wijers SLJ, Maer AB, Van der Schueren MAE. High prevalence of physical frailty among community-dwelling malnourished older adults – a systematic review and meta-analysis. J Am Med Dir Assoc. 2017; 18: 374-82
  9. Wiersma T, Woutersen-Koch H. NHG-Standpunt Diagnostiek van vitamine-B12-Deficientie. Huisarts en Wetenschap. 2014; 57: 472-5.
  10. Rote-Hand-Brief: Verschärfte Empfehlungen bezüglich des Risikos schwerer Überempfindlichkeitsreaktionen auf Eisen-Präparate zur intravenösen Applikation. Bundesministerium für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Oktober 2013.
  11. Wang H, Li L, Qin LL, Song Y, Vidal-Alaball J, Liu TH. Oral vitamin B12 versus intramuscular vitamin B12 for vitamin B12 deficiency. Cochrane Database Syst Rev. 2018, Issue 3. Art. No.: CD004655. DOI: 10.1002/14651858.CD004655.pub3
  12. Statistisches Bundesamt. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit (2019). Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2018. Wiesbaden, Stand 17. Juli 2020.
  13. Cario H, et al. S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der sekundären Eisenüberladung bei angeborenen Anämien. AWMF-Registriernr. 025/029. 2015 https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/025-029l_S2k_sekundäre_Eisenüberladung_bei_angeborenen_Anämien_2015-07.pdf
  14. Cario H, Grosse R, Jarisch A, Kuloz A. S2k-Leitlinie Sichelzellkrankheit. AWMF-Registriernr. 025/016, 2014
  15. Gosh K Ghosh K. Pathogenesis of anemia in malaria: a concise review. Parasitology research. 2007; 101; 1463-69
  16. Weckmann G, Stracke S, Chenot JF (2019). DEGAM S3-Leitlinie Nr. 22: Versorgung von Patienten mit chronischer nicht-dialysepflichtiger Nierenerkrankung in der Hausarztpraxis. AWMF-Register-Nr. 053–048, Stand Juni 2019.
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